Max Stirner

Der politische Liberalismus

(1844)

 



Anmerkung

Das ist eine der härtesten Kritiken, die je über politischen Liberalismus verübt wurde.
Natürlich sollte nicht Alles, was Denkern und Unterstützern des Liberalismus zugeschrieben wird, als Schund angesehen werden, wie gerade in der giftigen Kritik von Stirner zu lesen.

Dennoch gibt es mehrere, die behaupten würden, dass das Ersetzen der Macht des Einzelnen (des Königs bzw. des Adeligen) durch die unpersönliche Macht (des Staates, der Nation oder des Gesetzes), wie von den Liberalparteien beteuert und historisch durchgesetzt, zu der Einrichtung einer Macht geführt hat, die viel absoluter und aufdringlicher ist als mehrere Formen von Mächten, die es in der Vergangenheit gegeben hat.

Aus diesem Grund sollte die leidenschaftliche Verteidigung des Individuums, des Menschen als Unikum, des Selbstsüchtigen, der nur nach seinem Wohl sucht, nicht belächelt werden, auch wenn dies in so einer groben Sprache ausgedrückt ist, dass sich diejenigen, die Würde und Freiheit des Individuums schätzen, davon mehr abgelehnt als angezogen fühlen.

 


 

Nachdem man den Kelch des sogenannten absoluten Königtums so ziemlich bis auf den Bodensatz geleert hatte, ward man im achtzehnten Jahrhundert zu deutlich inne, daß sein Getränk nicht menschlich schmecke, um nicht auf einen andern Becher lüstern zu werden. «Menschen», was Unsere Väter doch waren, verlangten sie endlich, auch so angesehen zu werden.

Wer in Uns etwas Anderes sieht, als Menschen, in dem wollen Wir gleichfalls nicht einen Menschen, sondern einen Unmenschen sehen, und ihm wie einem Unmenschen begegnen; wer dagegen Uns als Menschen anerkennt und gegen die Gefahr schützt, unmenschlich behandelt zu werden, den wollen Wir als Unsern wahren Beschützer und Schirmherrn ehren.

Halten Wir denn zusammen, und schützen Wir einer im andern den Menschen; dann finden Wir in Unserem Zusammenhalt den nötigen Schutz, und in Uns, den Zusammenhaltenden, eine Gemeinschaft derer, die ihre Menschenwürde kennen und als «Menschen» zusammenhalten. Unser Zusammenhalt ist der Staat, Wir Zusammenhaltenden sind die Nation.

In Unserem Zusammen als Nation oder Staat sind Wir nur Menschen. Wie Wir Uns sonst als Einzelne benehmen, und welchen selbstsüchtigen Trieben Wir da erliegen mögen, das gehört lediglich Unserem Privatleben an; Unser öffentliches oder Staatsleben ist ein rein menschliches. Was Unmenschliches oder «Egoistisches» an Uns haftet, das ist zur «Privatsache» erniedrigt, und Wir scheiden genau den Staat von der «bürgerlichen Gesellschaft», in welcher der «Egoismus» sein Wesen treibt.

Der wahre Mensch ist die Nation, der Einzelne aber stets ein Egoist. Darum streifet Eure Einzelheit oder Vereinzelung ab, in welcher die egoistische Ungleichheit und der Unfriede hauset, und weihet Euch ganz dem wahren Menschen, der Nation oder dem Staate. Dann werdet Ihr als Menschen gelten und alles haben, was des Menschen ist; der Staat, der wahre Mensch, wird Euch zu dem Seinigen berechtigen und Euch die «Menschenrechte» geben: der Mensch gibt Euch seine Rechte!

So lautet die Rede des Bürgertums.

Das Bürgertum ist nichts anderes als der Gedanke, daß der Staat alles in allem, der wahre Mensch sei, und daß des Einzelnen Menschenwert darin bestehe, ein Staatsbürger zu sein. Ein guter Bürger zu sein, darin sucht er seine höchste Ehre, darüber hinaus kennt er nichts Höheres als höchstens das antiquierte – ein guter Christ.

Das Bürgertum entwickelte sich im Kampfe gegen die privilegierten Stände, von denen es als «dritter Stand» cavalièrement behandelt und mit der «canaille» zusammengeworfen wurde. Man hatte also im Staate bis jetzt «die ungleiche Person angesehen». Der Sohn eines Adeligen war zu Chargen ausersehen, nach denen die ausgezeichnetsten Bürgerlichen vergebens aufschauten usw. Dagegen empörte sich das bürgerliche Gefühl. Keine Auszeichnung mehr, keine Bevorzugung von Personen, kein Standesunterschied! Alle seien gleich! Kein Sonder– Interesse soll ferner verfolgt werden, sondern das allgemeine Interesse Aller. Der Staat soll eine Gemeinschaft von freien und gleichen Menschen sein, und Jeder sich dem «Wohle des Ganzen» widmen, in den Staat aufgehen, den Staat zu seinem Zweck und Ideal machen. Staat! Staat! so lautete der allgemeine Ruf, und fortan suchte man die «rechte Staatsverfassung», die beste Konstitution, also den Staat in seiner besten Fassung. Der Gedanke des Staats zog in alle Herzen ein und weckte Begeisterung; ihm zu dienen, diesem weltlichen Gotte, das ward der neue Gottesdienst und Kultus. Die eigentlich politische Epoche war angebrochen. Dem Staate oder der Nation dienen, das ward höchstes Ideal, Staatsinteresse – höchstes Interesse, Staatsdienst (wozu man keineswegs Beamter zu sein braucht) höchste Ehre.

So waren denn die Sonder–Interessen und Persönlichkeiten verscheucht und die Aufopferung für den Staat zum Schibboleth geworden. Sich muß man aufgeben und nur dem Staate leben. Man muß «uninteressiert» handeln, muß nicht sich nützen wollen, sondern dem Staate. Dieser ist dadurch zur eigentlichen Person geworden, vor welcher die einzelne Persönlichkeit verschwindet: nicht Ich lebe, sondern Er lebet in Mir. Darum war man gegen die frühere Selbstsucht gehalten, die Uneigennützigkeit und Unpersönlichkeit selber. Vor diesem Gotte, – Staat –, verschwand jeder Egoismus, und vor ihm waren Alle gleich: sie waren ohne allen andern Unterschied – Menschen, nichts als Menschen.

An dem entzündlichen Stoffe des Eigentums entbrannte die Revolution. Die Regierung brauchte Geld. Jetzt mußte sie den Satz, daß sie absolut, mithin Herrin alles Eigentums, alleinige Eigentümerin sei, bewähren; sie mußte ihr Geld, welches sich nur im Besitz, nicht im Eigentum der Untertanen befand, an sich nehmen. Statt dessen beruft sie Generalstände, um sich dies Geld bewilligen zu lassen. Die Furcht vor der letzten Konsequenz zerstörte die Illusion einer absoluten Regierung; wer sich etwas «bewilligen» lassen muß, der kann nicht für absolut angesehen werden. Die Untertanen erkannten, daß sie wirkliche Eigentümer seien, und daß es ihr Geld sei, welches man fordere. Die bisherigen Untertanen erlangten das Bewußtsein, daß sie Eigentümer seien. Mit wenig Worten schildert dies Bailly: «Wenn ihr nicht ohne meine Einstimmung über mein Eigentum verfügen könnt, wieviel weniger könnt ihr es über meine Person, über Alles, was meine geistige und gesellschaftliche Stellung angeht! Alles das ist mein Eigentum, wie das Stück Land, das ich beackere: und ich habe ein Recht, ein Interesse, die Gesetze selber zu machen.» Baillys Worte klingen freilich so, als wäre nun Jeder ein Eigentümer. Indes statt der Regierung, statt des Fürsten, ward jetzt Eigentümerin und Herrin – die Nation. Von nun an heißt das Ideal – «Volksfreiheit – ein freies Volk» usw.

Schon am 8. Juli 1789 zerstörte die Erklärung des Bischofs von Autun und Barrères den Schein, als sei Jeder, der Einzelne, von Bedeutung in der Gesetzgebung: sie zeigte die völlige Machtlosigkeit der Kommittenten: die Majorität der Repräsentanten ist Herrin geworden. Als am 9. Juli der Plan über Einteilung der Verfassungsarbeiten vorgetragen wird, bemerkt Mirabeau: «Die Regierung habe nur Gewalt, kein Recht; nur im Volke sei die Quelle alles Rechts zu finden.» Am 16. Juli ruft ebenderselbe Mirabeau aus: «Ist nicht das Volk die Quelle aller Gewalt?» Also die Quelle alles Rechts und die Quelle aller – Gewalt! Beiläufig gesagt, kommt hier der Inhalt des «Rechts» zum Vorschein: es ist die – Gewalt. «Wer die Gewalt hat, der hat das Recht.»

Das Bürgertum ist der Erbe der privilegierten Stände. In der Tat gingen nur die Rechte der Barone, die als «Usurpationen» ihnen abgenommen wurden, auf das Bürgertum über. Denn das Bürgertum hieß nun die «Nation». «In die Hände der Nation» wurden alle Vorrechte zurückgegeben. Dadurch hörten sie auf, «Vorrechte» zu sein: sie wurden «Rechte». Die Nation fordert von nun an Zehnten, Frondienste, sie hat das Herrengericht geerbt, die Jagdgerechtigkeit, die – Leibeigenen. Die Nacht vom 4. August war die Todesnacht der Privilegien oder «Vorrechte» (auch Städte, Gemeinden, Magistrate waren privilegiert, mit Vorrechten und Herrenrechten versehen), und endete mit dem neuen Morgen des «Rechtes», der «Staatsrechte», der «Rechte der Nation».

Der Monarch in der Person des «königlichen Herren» war ein armseliger Monarch gewesen gegen diesen neuen Monarchen, die «souveräne Nation». Diese Monarchie war tausendfach schärfer, strenger und konsequenter. Gegen den neuen Monarchen gab es gar kein Recht, kein Privilegium mehr; wie beschränkt nimmt sich dagegen der «absolute König» des ancien régime aus! Die Revolution bewirkte die Umwandlung der beschränkten Monarchie in die absolute Monarchie. Von nun an ist jedes Recht, welches nicht von diesem Monarchen verliehen wird, eine «Anmaßung», jedes Vorrecht aber, welches Er erteilt, ein «Recht». Die Zeit verlangte nach dem absoluten Königtum, der absoluten Monarchie, darum fiel jenes sogenannte absolute Königtum, welches so wenig absolut zu werden verstanden hatte, daß es durch tausend kleine Herren beschränkt blieb.

Was Jahrtausende ersehnt und erstrebt wurde, nämlich jenen absoluten Herrn zu finden, neben dem keine anderen Herren und Herrchen mehr machtverkürzend beständen, das hat die Bourgeoisie hervorgebracht. Sie hat den Herrn offenbart, welcher allein «Rechtstitel» verleiht, und ohne dessen Gewährung nichts berechtigt ist. «So wissen wir nun, daß ein Götze nichts in der Welt sei, und daß kein ander Gott sei ohne der einige.»

Gegen das Recht kann man nicht mehr, wie gegen ein Recht, mit der Behauptung auftreten, es sei «ein Unrecht». Man kann nur noch sagen, es sei Unsinn, eine Illusion. Nennete man's Unrecht, so müßte man ein anderes Recht dagegenstellen und an diesem es messen. Verwirft man hingegen das Recht als solches, das Recht an und für sich, ganz und gar, so verwirft man auch den Begriff des Unrechts, und löst den ganzen Rechtsbegriff (wozu der Unrechtsbegriff gehört) auf.

Was heißt das, Wir genießen Alle «Gleichheit der politischen Rechte?» Nur dies, daß der Staat keine Rücksicht auf Meine Person nehme, daß Ich ihm, wie jeder Andere, nur ein Mensch bin, ohne eine andere ihm imponierende Bedeutung zu haben. Ich imponiere ihm nicht als Adliger, Sohn eines Edelmannes, oder gar als Erbe eines Beamten, dessen Amt Mir erblich zugehört (wie im Mittelalter die Grafschaften usw. und später unter dem absoluten Königtum, wo erbliche Ämter vorkommen). Nun hat der Staat eine unzählige Menge von Rechten zu vergeben, z. B. das Recht, ein Bataillon, eine Kompagnie usw. zu führen, das Recht, an einer Universität zu lesen usw.; er hat sie zu vergeben, weil sie die seinigen, d. h. Staatsrechte oder «politische» Rechte sind. Dabei ist's ihm gleich, an wen er sie erteilt, wenn der Empfänger nur die Pflichten erfüllt, welche aus den überlassenen Rechten entspringen. Wir sind ihm Alle recht und – gleich, Einer nicht mehr und nicht weniger wert, als der Andere. Wer den Armeebefehl empfängt, das gilt Mir gleich, spricht der souveräne Staat, vorausgesetzt, daß der Belehnte die Sache gehörig versteht. «Gleichheit der politischen Rechte» hat sonach den Sinn, daß Jeder jedes Recht, welches der Staat zu vergeben hat, erwerben darf, wenn er nur die daran geknüpften Bedingungen erfüllt, Bedingungen, welche nur in der Natur des jedesmaligen Rechtes, nicht in einer Vorliebe für die Person (persona grata) gesucht werden sollen: die Natur des Rechtes, Offizier zu werden, bringt es z. B. mit sich, daß man gesunde Glieder und ein angemessenes Maß von Kenntnissen besitze, aber sie hat nicht adlige Geburt zur Bedingung; könnte hingegen selbst der verdienteste Bürgerliche jene Charge nicht erreichen, so fände eine Ungleichheit der politischen Rechte statt. Unter den heutigen Staaten hat der eine mehr, der andere weniger jenen Gleichheitsgrundsatz durchgeführt.

Die Ständemonarchie (so will Ich das absolute Königtum, die Zeit der Könige vor der Revolution, nennen) erhielt den Einzelnen in Abhängigkeit von lauter kleinen Monarchien. Dies waren Genossenschaften (Gesellschaften), wie die Zünfte, der Adelstand, Priesterstand, Bürgerstand, Städte, Gemeinden usw. Überall mußte der Einzelne sich zuerst als ein Glied dieser kleinen Gesellschaft ansehen und dem Geiste derselben, dem esprit de corps, als seinem Monarchen unbedingten Gehorsam leisten. Mehr als der einzelne Adlige z. B. sich selbst, muß ihm seine Familie, die Ehre seines Stammes, gelten. Nur mittelst seiner Korporation, seines Standes, bezog sich der Einzelne auf die größere Korporation, den Staat; wie im Katholizismus der Einzelne erst durch den Priester sich mit Gott vermittelt. Dem machte nun der dritte Stand, indem er den Mut bewies, sich als Stand zu negieren, ein Ende. Er entschloß sich, nicht mehr ein Stand neben andern Ständen zu sein und zu heißen, sondern zur «Nation» sich zu verklären und verallgemeinern. Dadurch erschuf er eine viel vollkommnere und absolutere Monarchie, und das ganze vorher herrschende Prinzip der Stände, das Prinzip der kleinen Monarchien innerhalb der großen, ging zu Grunde. Man kann aber nicht sagen, die Revolution habe den beiden ersten privilegierten Ständen gegolten, sondern sie galt den kleinen ständischen Monarchien überhaupt. Waren aber die Stände und ihre Zwingherrschaft gebrochen (auch der König war ja nur ein Ständekönig, kein Bürgerkönig), so blieben die aus der Standesungleichheit befreiten Individuen übrig. Sollten sie nun wirklich ohne Stand und aus «Rand und Band» sein, durch keinen Stand (status) mehr gebunden ohne allgemeines Band? Nein, es hatte ja nur deshalb der dritte Stand sich zur Nation erklärt, um nicht ein Stand neben andern Ständen zu bleiben, sondern der einzige Stand zu werden. Dieser einzige Stand ist die Nation, der «Staat» (status). Was war nun aus dem Einzelnen geworden? Ein politischer Protestant, denn er war mit seinem Gotte, dem Staate, in unmittelbaren Konnex getreten. Er war nicht mehr als Adliger in der Noblessenmonarchie, als Handwerker in der Zunftmonarchie, sondern Er wie Alle erkannten und bekannten nur – Einen Herrn, den Staat, als dessen Diener sie sämtlich den gleichen Ehrentitel «Bürger» erhielten.

Die Bourgeoisie ist der Adel des Verdienstes, «dem Verdienste seine Kronen» – ihr Wahlspruch. Sie kämpfte gegen den «faulen» Adel, denn nach ihr, dem fleißigen, durch Fleiß und Verdienst erworbenen Adel, ist nicht der «Geborene» frei, aber auch nicht Ich bin frei, sondern der «Verdienstvolle», der redliche Diener (seines Königs; des Staates; des Volkes in den konstitutionellen Staaten). Durch Dienen erwirbt man Freiheit, d. h. erwirbt sich «Verdienste» und diente man auch dem – Mammon. Verdient machen muß man sich um den Staat, d. h. um das Prinzip des Staates, um den sittlichen Geist desselben. Wer diesem Geiste des Staates dient, der ist, er lebe, welchem rechtlichen Erwerbszweige er wolle, ein guter Bürger. In ihren Augen treiben die «Neuerer» eine «brotlose Kunst». Nur der «Krämer» ist «praktisch», und Krämergeist ist so gut der, der nach Beamtenstellen jagt, als der, welcher im Handel sein Schäfchen zu scheren oder sonstwie sich und Andern nützlich zu werden sucht.

Gelten aber die Verdienstvollen als die Freien (denn was fehlt dem behaglichen Bürger, dem treuen Beamten an derjenigen Freiheit, nach der sein Herz verlangt?), so sind die «Diener» die – Freien. Der gehorsame Diener ist der freie Mensch! Welch eine Härte der Widersinnigkeit! Dennoch ist dies der Sinn der Bourgeoisie, und ihr Dichter Goethe, wie ihr Philosoph Hegel haben die Abhängigkeit des Subjekts vom Objekt, den Gehorsam gegen die Objektive Welt usw. zu verherrlichen gewußt. Wer nur der Sache dient, «sich ihr ganz hingibt», der hat die wahre Freiheit. Und die Sache war bei den Denkenden die – Vernunft, sie, die gleich Staat und Kirche – allgemeine Gesetze gibt und durch den Gedanken der Menschheit den einzelnen Menschen in Bande schlägt. Sie bestimmt, was «wahr» sei, wonach man sich dann zu richten hat. Keine «vernünftigeren» Leute als die redlichen Diener, die zunächst als Diener des Staates gute Bürger genannt werden.

Sei Du steinreich oder blutarm – das überläßt der Staat des Bürgertums Deinem Belieben; habe aber nur eine «gute Gesinnung». Sie verlangt er von Dir und hält es für seine dringendste Aufgabe, dieselbe bei Allen herzustellen. Darum wird er vor «bösen Einflüsterungen» Dich bewahren, indem er die «Übelgesinnten» im Zaume hält und ihre aufregenden Reden unter Zensurstrichen oder Preßstrafen und hinter Kerkermauern verstummen läßt, und wird anderseits Leute von «guter Gesinnung» zu Zensoren bestellen und auf alle Weise von «Wohlgesinnten und Wohlmeinenden» einen moralischen Einfluß auf Dich ausüben lassen. Hat er Dich gegen die bösen Einflüsterungen taub gemacht, so öffnet er Dir um so emsiger die Ohren wieder für die guten Einflüsterungen.

Mit der Zeit der Bourgeoisie beginnt die des Liberalismus. Man will überall das «Vernünftige», das «Zeitgemäße» usw. hergestellt sehen. Folgende Definition des Liberalismus, die ihm zu Ehren gesagt sein soll, bezeichnet ihn vollständig: «Der Liberalismus ist nichts anders, als die Vernunfterkenntnis angewandt auf unsere bestehenden Verhältnisse.» Sein Ziel ist eine «vernünftige Ordnung», ein «sittliches Verhalten», eine «beschränkte Freiheit», nicht die Anarchie, die Gesetzlosigkeit, die Eigenheit. Herrscht aber die Vernunft, so unterliegt die Person. Die Kunst hat längst das Häßliche nicht nur gelten lassen, sondern als zu ihrem Bestehen notwendig erachtet und in sich aufgenommen: sie braucht den Bösewicht usw. Auch im religiösen Gebiete gehen die extremsten Liberalen so weit, daß sie den religiösesten Menschen für einen Staatsbürger angesehen wissen wollen, d. h. den religiösen Bösewicht; sie wollen nichts mehr von Ketzergerichten wissen. Aber gegen das «vernünftige Gesetz» soll sich Keiner empören, sonst droht ihm die härteste – Strafe. Man will nicht eine freie Bewegung und Geltung der Person oder Meiner, sondern der Vernunft, d. h. eine Vernunftherrschaft, eine Herrschaft. Die Liberalen sind Eiferer, nicht gerade für den Glauben, für Gott usw., wohl aber für die Vernunft, ihre Herrin. Sie vertragen keine Ungezogenheit und darum keine Selbstentwicklung und Selbstbestimmung: sie bevormunden trotz den absolutesten Herrschern.

«Politische Freiheit», was soll man sich darunter denken? Etwa die Freiheit des Einzelnen vom Staate und seinen Gesetzen? Nein, im Gegenteil die Gebundenheit des Einzelnen im Staate und an die Staatsgesetze. Warum aber «Freiheit»? Weil man nicht mehr vom Staate durch Mittelspersonen getrennt wird, sondern in direkter und unmittelbarer Beziehung zu ihm steht, weil man – Staatsbürger ist, nicht Untertan eines Andern, selbst nicht des Königs als einer Person, sondern nur in seiner Eigenschaft als «Staatsoberhaupt». Die politische Freiheit, diese Grundlehre des Liberalismus, ist nichts als eine zweite Phase des – Protestantismus und läuft mit der «religiösen Freiheit» ganz parallel. Oder wäre etwa unter letzterer eine Freiheit von der Religion zu verstehen? Nichts weniger als das. Nur die Freiheit von Mittelspersonen soll damit ausgesprochen werden, die Freiheit von vermittelnden Priestern, die Aufhebung der «Laienschaft», also das direkte und unmittelbare Verhältnis zur Religion oder zu Gott. Nur unter der Voraussetzung, daß man Religion habe, kann man Religionsfreiheit genießen, Religionsfreiheit heißt nicht Religionslosigkeit, sondern Glaubensinnigkeit, unvermittelter Verkehr mit Gott. Wer «religiös frei» ist, dem ist die Religion eine Herzens-Sache, ist ihm seine eigene Sache, ist ihm ein «heiliger Ernst». So auch ist's dem «politisch Freien» ein heiliger Ernst mit dem Staate, er ist seine Herzenssache, seine Hauptsache, seine eigene Sache.

Politische Freiheit sagt dies, daß die Polis, der Staat, frei ist, Religionsfreiheit dies, daß die Religion frei ist, wie Gewissensfreiheit dies bedeutet, daß das Gewissen frei ist; also nicht, daß Ich vom Staate, von der Religion, vom Gewissen frei, oder daß Ich sie los bin. Sie bedeutet nicht Meine Freiheit, sondern die Freiheit einer Mich beherrschenden und bezwingenden Macht; sie bedeutet, daß einer Meiner Zwingherrn, wie Staat, Religion, Gewissen frei sind. Staat, Religion, Gewissen, diese Zwingherrn, machen Mich zum Sklaven, und ihre Freiheit ist Meine Sklaverei. Daß sie dabei notwendig dem Grundsatze «der Zweck heiligt die Mittel» folgen, versteht sich von selbst. Ist das Staatswohl Zweck, so ist der Krieg ein geheiligtes Mittel; ist die Gerechtigkeit Staatszweck, so ist der Totschlag ein geheiligtes Mittel und heißt mit seinem heiligen Namen: «Hinrichtung» usw. der heilige Staat heiligt alles, was ihm frommt.

Die «individuelle Freiheit», über welche der bürgerliche Liberalismus eifersüchtig wacht, bedeutet keineswegs eine vollkommen freie Selbstbestimmung, wodurch die Handlungen ganz die Meinigen werden, sondern nur Unabhängigkeit von Personen. Individuell frei ist, wer keinem Menschen verantwortlich ist. In diesem Sinne gefaßt – und man darf sie nicht anders verstehen – ist nicht bloß der Herrscher individuell frei d. i. unverantwortlich gegen Menschen («vor Gott» bekennt er sich ja verantwortlich), sondern Alle, welche «nur dem Gesetze verantwortlich sind». Diese Art der Freiheit wurde durch die revolutionäre Bewegung des Jahrhunderts errungen, die Unabhängigkeit nämlich vom Belieben, vom tel est notre plaisir. Daher mußte der konstitutionelle Fürst selbst aller Persönlichkeit entkleidet, alles individuellen Beschließens beraubt werden, um nicht als Person, als individueller Mensch, die «individuelle Freiheit» Anderer zu verletzen. Der persönliche Herrscherwille ist im konstitutionellen Fürsten verschwunden; mit richtigem Gefühl wehren sich daher die absoluten dagegen. Gleichwohl wollen gerade diese im besten Sinne «christliche Fürsten» sein. Dazu müßten sie aber eine rein geistige Macht werden, da der Christ nur dem Geiste untertan ist («Gott ist Geist»). Konsequent stellt die rein geistige Macht nur der konstitutionelle Fürst dar, er, der ohne alle persönliche Bedeutung in dem Grade vergeistigt dasteht, daß er für einen vollkommenen unheimlichen «Geist» gelten kann, für eine Idee. Der konstitutionelle König ist der wahrhaft christliche König, die echte Konsequenz des christlichen Prinzips. In der konstitutionellen Monarchie hat die individuelle Herrschaft, d. h. ein wirklich wollender Herrscher, sein Ende gefunden; darum waltet hier die individuelle Freiheit, Unabhängigkeit von jedem individuellen Gebieter, von Jedem, der Mir mit einem tel est notre plaisir gebieten könnte. Sie ist das vollendete christliche Staatsleben, ein vergeistigtes Leben.

Das Bürgertum benimmt sich durch und durch liberal. Jeder persönliche Eingriff in die Sphäre des Andern empört den bürgerlichen Sinn: sieht der Bürger, daß man von der Laune, dem Belieben, dem Willen eines Menschen als Einzelnen (d. h. als nicht durch eine «höhere Macht» Autorisierten) abhängig ist, gleich kehrt er seinen Liberalismus heraus und schreit über «Willkür». Genug, der Bürger behauptet seine Freiheit von dem, was man Befehl (ordonnance) nennt: «Mir hat niemand etwas zu – befehlen!» Befehl hat den Sinn, daß das, was Ich soll, der Wille eines andern Menschen ist, wogegen Gesetz nicht eine persönliche Gewalt des Andern ausdrückt. Die Freiheit des Bürgertums ist die Freiheit oder Unabhängigkeit vom Willen einer andern Person, die sogenannte persönliche oder individuelle Freiheit; denn persönlich frei sein heißt nur so frei sein, daß keine andere Person über die Meinige verfügen kann, oder daß was Ich darf oder nicht darf, nicht von der persönlichen Bestimmung eines Andern abhängt. Die Preßfreiheit unter andern ist eine solche Freiheit des Liberalismus, der nur den Zwang der Zensur als den der persönlichen Willkür bekämpft, sonst aber jene durch «Preßgesetze» zu tyrannisieren äußerst geneigt und willig sich zeigt, d. h. die bürgerlichen Liberalen wollen Schreibefreiheit für sich; denn da sie gesetzlich sind, werden sie durch ihre Schriften nicht dem Gesetze verfallen. Nur Liberales d. h. nur Gesetzliches soll gedruckt werden dürfen; sonst drohen die «Preßgesetze» mit «Preßstrafen». Sieht man die persönliche Freiheit gesichert, so merkt man gar nicht, wie, wenn es nun zu etwas Weiterem kommt, die grellste Unfreiheit herrschend wird. Denn den Befehl ist man zwar los, und «Niemand hat Uns was zu befehlen», aber um so unterwürfiger ist man dafür geworden dem – Gesetze. Man wird nun in aller Form Rechtens geknechtet.

Im Bürger-Staate gibt es nur «freie Leute», die zu Tausenderlei (z. B. zu Ehrerbietung, zu einem Glaubensbekenntnis u. dergl.) gezwungen werden. Was tut das aber? Es zwingt sie ja nur der – Staat, das Gesetz, nicht irgend ein Mensch!

Was will das Bürgertum damit, daß es gegen jeden persönlichen, d. h. nicht in der «Sache», der «Vernunft» usw. begründeten Befehl eifert? Es kämpft eben nur im Interesse der «Sache» gegen die Herrschaft der «Personen»! Sache des Geistes ist aber das Vernünftige, Gute, Gesetzliche usw.; das ist die «gute Sache». Das Bürgertum will einen unpersönlichen Herrscher.

Ist ferner das Prinzip dies, daß nur die Sache den Menschen beherrschen soll, nämlich die Sache der Sittlichkeit, die Sache der Gesetzlichkeit usw., so darf auch keinerlei persönliche Verkürzung des Einen durch den Andern autorisiert werden (wie früher z. B. der Bürgerliche um die Adelsämter verkürzt wurde, der Adlige um bürgerliches Handwerk usw.), d. h. es muß freie Konkurrenz stattfinden. Nur durch die Sache kann Einer den Andern verkürzen (der Reiche z. B. den Unbemittelten durch das Geld, eine Sache), als Person nicht. Es gilt fortan nur Eine Herrschaft, die Herrschaft des Staats; persönlich ist Keiner mehr ein Herr des Andern. Schon bei der Geburt gehören die Kinder dem Staate und den Eltern nur im Namen des Staates, der z. B. den Kindermord nicht duldet, die Taufe derselben fordert usw.

Aber dem Staate gelten auch alle seine Kinder ganz gleich («bürgerliche oder politische Gleichheit»), und sie mögen selbst zusehen, wie sie miteinander fertig werden: sie mögen konkurrieren.

Freie Konkurrenz bedeutet nichts Anderes, als daß Jeder gegen den Andern auftreten, sich geltend machen, kämpfen kann. Dagegen sperrte sich natürlich die feudale Partei, da ihre Existenz vom Nichtkonkurrieren abhängt. Die Kämpfe in der Restaurationszeit Frankreichs hatten keinen andern Inhalt, als den, daß die Bourgeoisie nach freier Konkurrenz rang, und die Feudalen die Zünftigkeit zurückzubringen suchten.

Nun, die freie Konkurrenz hat gesiegt und mußte gegen die Zünftigkeit siegen. (Das Weitere siehe unten.)

Verlief sich die Revolution in eine Reaktion, so kam dadurch nur zu Tage, was die Revolution eigentlich war. Denn jedes Streben gelangt dann in die Reaktion, wenn es zur Besinnung kommt, und stürmt nur so lange in die ursprüngliche Aktion vorwärts, als es ein Rausch, eine «Unbesonnenheit» ist. «Besonnenheit» wird stets das Stichwort der Reaktion sein, weil die Besonnenheit Grenzen setzt, und das eigentliche Gewollte, d. h. das Prinzip, von der anfänglichen «Zügellosigkeit» und «Schrankenlosigkeit» befreit. Wilde Bursche, renommierende Studenten, die alle Rücksichten aus den Augen setzen, sind eigentlich Philister, da bei ihnen wie bei diesen die Rücksichten den Inhalt ihres Treibens bilden, nur daß sie als Bramarbasse sich gegen die Rücksichten auflehnen und negativ verhalten, als Philister später sich ihnen ergeben und positiv dazu verhalten. Um die «Rücksichten» dreht sich in beiden Fällen ihr gesamtes Tun und Denken, aber der Philister ist gegen den Burschen reaktionär, ist der zur Besinnung gekommene wilde Geselle, wie dieser der unbesonnene Philister ist. Die alltägliche Erfahrung bestätigt die Wahrheit dieses Umschlagens und zeigt, wie die Renommisten zu Philistern ergrauen.

So beweist auch die sogenannte Reaktion in Deutschland, wie sie nur die besonnene Fortsetzung des kriegerischen Freiheitsjubels war.

Die Revolution war nicht gegen das Bestehende gerichtet, sondern gegen dieses Bestehende, gegen einen bestimmten Bestand. Sie schaffte diesen Herrscher ab, nicht den Herrscher, im Gegenteil wurden die Franzosen aufs unerbittlichste beherrscht; sie tötete die alten Lasterhaften, wollte aber den Tugendhaften ein sicheres Bestehen gewähren, d. h. sie setzte an die Stelle des Lasters nur die Tugend. (Laster und Tugend unterscheiden sich ihrerseits wieder nur, wie ein wilder Bursche von einem Philister) usw.

Bis auf den heutigen Tag ist das Revolutionsprinzip dabei geblieben, nur gegen dieses und jenes Bestehende anzukämpfen, d. h. reformatorisch zu sein. So viel auch verbessert, so stark auch der «besonnene Fortschritt» eingehalten werden mag: immer wird nur ein neuer Herr an die Stelle des alten gesetzt, und der Umsturz ist ein – Aufbau. Es bleibt bei dem Unterschiede des jungen von dem alten Philister. Spießbürgerlich begann die Revolution mit der Erhebung des dritten Standes, des Mittelstandes, spießbürgerlich versiegt sie. Nicht der einzelne Mensch – und dieser allein ist der Mensch – wurde frei, sondern der Bürger, der citoyen, der politische Mensch, der eben deshalb nicht der Mensch, sondern ein Exemplar der Menschengattung, und spezieller ein Exemplar der Bürgergattung, ein freier Bürger ist.

In der Revolution handelte nicht der Einzelne weltgeschichtlich, sondern ein Volk: die Nation, die souveräne, wollte alles bewirken. Ein eingebildetes Ich, eine Idee, wie die Nation ist, tritt handelnd auf, d. h. die Einzelnen geben sich zu Werkzeugen dieser Idee her und handeln als «Bürger».

Seine Macht und zugleich seine Schranken hat das Bürgertum im Staatsgrundgesetze, in einer Charte, in einem rechtlichen oder «gerechten» Fürsten, der selbst nach «vernünftigen Gesetzen» sich richtet und herrscht, kurz in der Gesetzlichkeit. Die Periode der Bourgeoisie wird von dem britischen Geiste der Gesetzlichkeit beherrscht. Eine Versammlung von Landständen ruft sich z. B. stets ins Gedächtnis, daß ihre Befugnisse nur so und so weit gehen, und daß sie überhaupt nur aus Gnaden berufen sei und aus Ungnade wieder verworfen werden könne. Sie erinnert sich stets selbst an ihren – Beruf. Es ist zwar nicht zu leugnen, daß Mich mein Vater erzeugt hat; aber nun Ich einmal erzeugt bin, gehen Mich doch wohl seine Erzeugungs-Absichten gar nichts an, und wozu er Mich auch immer berufen haben mag, Ich tue, was Ich selber will. Darum erkannte auch eine berufene Ständeversammlung, die französische im Anfange der Revolution, ganz richtig, daß sie vom Berufer unabhängig sei. Sie existierte und wäre dumm gewesen, wenn sie das Recht der Existenz nicht geltend machte, sondern sich, wie vom Vater, abhängig wähnte. Der Berufene hat nicht mehr zu fragen: was wollte der Berufer, als er Mich schuf? – sondern: was will Ich, nachdem Ich einmal dem Rufe gefolgt bin? Nicht der Berufer, nicht die Kommittenten, nicht die Charte, nach welcher ihr Zusammentritt hervorgerufen wurde, nichts wird für ihn eine heilige, unantastbare Macht sein. Er ist zu allem befugt, was in seiner Macht steht; er wird keine beschränkende «Befugnis» kennen, wird nicht loyal sein wollen. Dies gäbe, wenn man von Kammern überhaupt so etwas erwarten könnte, eine vollkommen egoistische Kammer, abgelöst von aller Nabelschnur und rücksichtslos. Aber Kammern sind stets devot, und darum kann es nicht befremden, wenn so viel halber oder unentschiedener, d. h. heuchlerischer «Egoismus» sich in ihnen breit macht.

Die Ständemitglieder sollen in den Schranken bleiben, welche ihnen durch die Charte, durch den Königswillen u. dergl. vorgezeichnet sind. Wollen oder können sie das nicht, so sollen sie «austreten». Welcher Pflichtgetreue könnte anders handeln, könnte sich, seine Überzeugung und seinen Willen als das Erste setzen, wer könnte so unsittlich sein, sich geltend machen zu wollen, wenn darüber auch die Körperschaft und Alles zu Grunde ginge? Man hält sich sorglich innerhalb der Grenzen seiner Befugnis; in den Grenzen seiner Macht muß man ja ohnehin bleiben, weil Keiner mehr kann als er kann. «Die Macht oder respektive Ohnmacht Meiner wäre meine alleinige Grenze, Befugnisse aber nur bindende – Satzungen? Zu dieser alles umstürzenden Ansicht sollte Ich Mich bekennen? Nein, Ich bin ein – gesetzlicher Bürger!»

Das Bürgertum bekennt sich zu einer Moral, welche aufs engste mit seinem Wesen zusammenhängt. Ihre erste Forderung geht darauf hin, daß man ein solides Geschäft, ein ehrliches Gewerbe betreibe, einen moralischen Wandel führe. Unsittlich ist ihr der Industrieritter, die Buhlerin, der Dieb, Räuber und Mörder, der Spieler, der vermögenlose Mann ohne Anstellung, der Leichtsinnige. Die Stimmung gegen diese «Unmoralischen» bezeichnet der wackere Bürger als seine «tiefste Entrüstung». Es fehlt diesen Allen die Ansässigkeit, das Solide des Geschäfts, ein solides, ehrsames Leben, das feste Einkommen usw., kurz, sie gehören, weil ihre Existenz nicht auf einer sicheren Basis ruht, zu den gefährlichen «Einzelnen oder Vereinzelten», zum gefährlichen Proletariat: sie sind «einzelne Schreier», die keine «Garantien» bieten und «nichts zu verlieren», also nichts zu riskieren haben. Schließung eines Familienbandes z. B. bindet den Menschen, der Gebundene gewährt eine Bürgschaft, ist faßbar; dagegen das Freudenmädchen nicht. Der Spieler setzt alles aufs Spiel, ruiniert sich und Andere; – keine Garantie. Man könnte Alle, welche dem Bürger verdächtig, feindlich und gefährlich erscheinen, unter dem Namen «Vagabunden» zusammenfassen; ihm mißfällt jede vagabundierende Lebensart. Denn es gibt auch geistige Vagabunden, denen der angestammte Wohnsitz ihrer Väter zu eng und drückend vorkommt, als daß sie ferner mit dem beschränkten Raume sich begnügen möchten: statt sich in den Schranken einer gemäßigten. Denkungsart zu halten und für unantastbare Wahrheit zu nehmen, was Tausenden Trost und Beruhigung gewährt, überspringen sie alle Grenzen des Althergebrachten und extravagieren mit ihrer frechen Kritik und ungezähmten Zweifelsucht, diese extravaganten Vagabunden. Sie bilden die Klasse der Unsteten, Ruhelosen, Veränderlichen, d. h. der Proletarier, und heißen, wenn sie ihr unseßhaftes Wesen laut werden lassen, «unruhige Köpfe».

Solch weiten Sinn hat das sogenannte Proletariat oder der Pauperismus. Wie sehr würde man irren, wenn man dem Bürgertum das Verlangen zutraute, die Armut (Pauperismus) nach besten Kräften zu beseitigen. Im Gegenteil hilft sich der gute Bürger mit der unvergleichlich tröstlichen Überzeugung, daß «die Güter des Glückes nun einmal ungleich verteilt seien und immer so bleiben werden – nach Gottes weisem Ratschlusse». Die Armut, welche ihn auf allen Gassen umgibt, stört den wahren Bürger nicht weiter, als daß er höchstens sich mit ihr durch ein hingeworfenes Almosen abfindet, oder einem «ehrlichen und brauchbaren» Burschen Arbeit und Nahrung verschafft. Desto mehr aber fühlt er seinen ruhigen Genuß getrübt durch die neuerungssüchtige und unzufriedene Armut, durch jene Armen, welche sich nicht mehr stille verhalten und dulden, sondern zu extravagieren anfangen und unruhig werden. Sperrt den Vagabunden ein, steckt den Unruhestifter ins dunkelste Verließ! Er will im Staate «Mißvergnügen erregen und gegen bestehende Verordnungen aufreizen» – steiniget, steiniget ihn!

Gerade aber von diesen Unzufriedenen geht etwa folgendes Raisonnement aus: Den «guten Bürgern» kann es gleich gelten, wer sie und ihre Prinzipien schützt, ob ein absoluter oder konstitutioneller König, eine Republik usw., wenn sie nur geschützt werden. Und welches ist ihr Prinzip, dessen Schutzherrn sie stets «lieben»? Das der Arbeit nicht; das der Geburt auch nicht. Aber das der Mittelmäßigkeit, der schönen Mitte: ein bißchen Geburt und ein bißchen Arbeit, d. h. ein sich verzinsender Besitz. Besitz ist hier das Feste, das Gegebene, Ererbte (Geburt), das Verzinsen ist daran die Mühwaltung (Arbeit), also arbeitendes Kapital. Nur kein Übermaß, kein Ultra, kein Radikalismus! Allerdings Geburtsrecht, aber nur angeborner Besitz; allerdings Arbeit, aber wenig oder gar keine eigene, sondern Arbeit des Kapitals und der – untertänigen Arbeiter.

Liegt eine Zeit in einem Irrtum befangen, so ziehen stets die Einen Vorteil aus ihm, indes die Andern den Schaden davon haben. Im Mittelalter war der Irrtum allgemein unter den Christen, daß die Kirche alle Gewalt oder die Oberherrlichkeit auf Erden haben müsse; die Hierarchen glaubten nicht weniger an diese «Wahrheit» als die Laien, und beide waren in dem gleichen Irrtum festgebannt. Allein die Hierarchen hatten durch ihn den Vorteil der Gewalt, die Laien den Schaden der Untertänigkeit. Wie es aber heißt: «durch Schaden wird man klug», so wurden die Laien endlich klug und glaubten nicht länger an die mittelalterliche «Wahrheit». – Ein gleiches Verhältnis findet zwischen Bürgertum und Arbeitertum statt. Bürger und Arbeiter glauben an die «Wahrheit» des Geldes; sie, die es nicht besitzen, glauben nicht weniger daran, als jene, welche es besitzen, also die Laien wie die Priester.

«Geld regiert die Welt» ist der Grundton der bürgerlichen Epoche. Ein besitzloser Adliger und ein besitzloser Arbeiter sind als «Hungerleider» für die politische Geltung bedeutungslos: Geburt und Arbeit tun's nicht, sondern das Geld gibt Geltung. Die Besitzenden herrschen, der Staat aber erzieht aus den Besitzlosen seine «Diener», denen er in dem Maße, als sie in seinem Namen herrschen (regieren) sollen, Geld (Gehalt) gibt.

Ich empfange Alles vom Staate. Habe Ich etwas ohne die Bewilligung des Staates? Was Ich ohne sie habe, das nimmt er Mir ab, sobald er den fehlenden «Rechtstitel» entdeckt. Habe Ich also nicht Alles durch seine Gnade, seine Bewilligung?

Darauf allein, auf den Rechtstitel, stützt sich das Bürgertum. Der Bürger ist, was er ist, durch den Staatsschutz, durch die Gnade des Staats. Er müßte fürchten, Alles zu verlieren, wenn die Macht des Staates gebrochen würde.

Wie ist's aber mit dem, der nichts zu verlieren hat, wie mit dem Proletarier? Da er nichts zu verlieren hat, braucht er für sein «Nichts» den Staatsschutz nicht. Er kann im Gegenteil gewinnen, wenn jener Staatsschutz den Schützlingen entzogen wird.

Darum wird der Nichtbesitzende den Staat als Schutzmacht des Besitzenden ansehen, die diesen privilegiert, ihn dagegen nur – aussaugt. Der Staat ist ein – Bürgerstaat, ist der status des Bürgertums. Er schützt den Menschen nicht nach seiner Arbeit, sondern nach seiner Folgsamkeit («Loyalität»), nämlich danach, ob er die vom Staate anvertrauten Rechte dem Willen, d. h. Gesetzen des Staates gemäß genießt und verwaltet.

Unter dem Regime des Bürgertums fallen die Arbeitenden stets den Besitzenden, d. h. denen, welche irgend ein Staatsgut (und alles Besitzbare ist Staatsgut, gehört dem Staate und ist nur Lehen der Einzelnen) zu ihrer Verfügung haben, besonders Geld und Gut, also den Kapitalisten in die Hände. Es kann der Arbeiter seine Arbeit nicht verwerten nach dem Maße des Wertes, welchen sie für den Genießenden hat. «Die Arbeit wird schlecht bezahlt!» Den größten Gewinn hat der Kapitalist davon. – Gut und mehr als gut werden nur die Arbeiten derjenigen bezahlt, welche den Glanz und die Herrschaft des Staates erhöhen, die Arbeiten hoher Staats diener. Der Staat bezahlt gut, damit seine «guten Bürger», die Besitzenden, ohne Gefahr schlecht bezahlen können; er sichert sich seine Diener, aus welchen er für die «guten Bürger» eine Schutzmacht, eine «Polizei» (zur Polizei gehören Soldaten, Beamte aller Art, z. B. die der Justiz, Erziehung usw., kurz die ganze «Staatsmaschine») bildet, durch gute Bezahlung, und die «guten Bürger» entrichten gern hohe Abgaben an ihn, um desto niedrigere ihren Arbeitern zu leisten.

Aber die Klasse der Arbeiter bleibt, weil in dem, was sie wesentlich sind, ungeschützt (denn nicht als Arbeiter genießen sie den Staatsschutz, sondern als seine Untertanen haben sie einen Mitgenuß von der Polizei, einen sogenannten Rechtsschutz), eine diesem Staate, diesem Staate der Besitzenden, diesem «Bürgerkönigtum», feindliche Macht. Ihr Prinzip, die Arbeit, ist nicht seinem Werte nach anerkannt: es wird ausgebeutet, eine Kriegsbeute der Besitzenden, der Feinde.

Die Arbeiter haben die ungeheuerste Macht in den Händen, und wenn sie ihrer einmal recht inne würden und sie gebrauchten, so widerstände ihnen nichts: sie dürften nur die Arbeit einstellen und das Gearbeitete als das Ihrige ansehen und genießen. Dies ist der Sinn der hie und da auftauchenden Arbeiterunruhen.

Der Staat beruht auf der – Sklaverei der Arbeit. Wird die Arbeit frei, so ist der Staat verloren.

 


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