Benjamin Tucker

Das Wesen des Staates

(1887)

 


 

Anmerkung

Benjamin Tucker stellt die ganz und gar vernünftige und durchführbare Idee des Nebeneinanders verschiedener „Staaten“ ( Dienstleistungsgesellschaften oder Agenturen) im gleichen Territorium vor. Dabei erinnert er jene, die die Durchführbarkeit dieser Idee in Frage stellen, daran, dass dies seinerzeit auch jene taten, die die Präsenz verschiedener Religionsgemeinschaften im gleichen Territorium als unmöglich und ganz und gar unangemessen beurteilten. Später verbreitete sich dann die religiöse Toleranz. Nun ist die Zeit gekommen, politische Toleranz zu akzeptieren und zu leben.

Quelle: Benjamin Tucker, The Nature of the State, Liberty, 22. Oktober 1887

 


 

Als Antwort auf Mr. Read’s Aussage (die, wenn sie wahr wäre, mit all ihren Auswirkungen eine stichhaltige und endgültige Antwort an die Anarchisten wäre), dass „die Auflösung eines Organismus etwas anderes ist als die Auflösung einer Ansammlung von Atomen ohne organische Struktur“, fällt mir nichts besseres ein als den folgenden Auszug aus einem Artikel von J.Wm.Lloyd aus der Ausgabe 107 des „Liberty“ zu zitieren:

Es scheint mir, dass dieses Universum lediglich eine breite Masse von Individuen ist, von einfachen und primären Individuen und von komplexen, zweitrangigen, drittrangigen, etc., geformt von der Masse der primären Individuen oder von solchen einer geringeren Komplexität. Einige dieser Individuen von hoher Komplexität sind wahre Individuen „greifbar“, so verbunden, dass eingebundene niedere Organismen nicht ausserhalb des Hauptorganismus existieren können, und während andere „unstet“ sind, existieren die eingebundenen Organismen ziemlich gut, sogar so gut oder besser getrennt, als verbunden. In der ersten Klasse sind viele Arten von höherem pflanzlichen und tierischen Leben enthalten, einschliesslich des Menschen, und in der letzteren sind viele Arten von niederem pflanzlichen und tierischen Leben enthalten (Ackerquecke, Bandwurm etc.), sowie die meisten Gesellschaftsorganismen, Regierungen, Nationen, Kirchen, Armeen, etc.

In Anbetracht dieser unbestreitbaren Sicht der Dinge wird es klar, dass Mr. Read’s Aussage über die „Auflösung eines Organismus“ unwahr ist, während das Wort Organismus durch irgendein Adjektiv entsprechend Mr. Lloyds „greifbar“ unqualifiziert bleibt. Die Frage ist dann, ob der Staat ein greifbarer Organismus ist. Die Anarchisten behaupten, dass er es nicht ist. Wenn Mr. Read glaubt, dass er es ist, liegt die Beweislast (onus probandi) bei ihm. Ich vermute, dass sein Irrtum auf einer Verwechslung zwischen Staat und Gesellschaft beruht. Die Gesellschaft ist ein greifbarer Organismus, was auch die Anarchisten nicht verneinen, im Gegenteil, sie bestehen sogar darauf. Konsequenterweise haben sie weder die Absicht noch den Wunsch sie abzuschaffen. Sie wissen, dass das Bestehen einer Gesellschaft untrennbar mit dem Leben von Individuen verbunden ist und dass es folglich unmöglich ist, eines ohne das andere zu zerstören. Jedoch, obwohl es nicht möglich ist, eine Gesellschaft zu zerstören, kann ihr Funktionieren doch sehr zum Nachteil der Personen aus denen sie sich zusammensetzt, behindert und erschwert werden. Ihr grösstes Hindernis ist der Staat. Der Staat ist im Gegensatz zur Gesellschaft ein unsteter Organismus. Wenn er morgen zerstört würde, würden die Personen weiter existieren. Herstellung, Austausch und Gesellschaft würden weiter funktionieren wie vorher, aber viel freier und alle sozialen Tätigkeiten von denen ein Individuum abhängt würden sich nützlicher zu seinen Gunsten auswirken als je. Das Individuum hängt nicht vom Staat ab wie der Tiger von seiner Tatze. Töte den Tiger und die Tatze kann ihre Aufgabe nicht mehr erfüllen, töte den Staat und das Individuum lebt weiter und befriedigt seine Bedürfnisse. In Bezug auf die Gesellschaft bedeutet das, dass die Anarchisten sie nicht töten würden wenn sie könnten und nicht töten könnten wenn sie wollten.

Mr. Read ist erstaunt, dass ich „den Staat auf das gleiche Niveau wie Kirche und Versicherungsgesellschaften stellen würde“. Ich finde sein Erstaunen amüsant. Gläubige obligatorischer Religionen waren erstaunt als zum ersten Mal vorgeschlagen wurde, die Kirche auf das Niveau anderer Vereinigungen zu setzen. Heute ist man nur noch darüber erstaunt - zumindest in den Vereinigten Staaten - dass es der Kirche erlaubt ist, auf allen möglichen Niveaus zu verbleiben. Der politische Aberglaube hat den religiösen Aberglauben abgelöst und Mr. Read ist ihm unterworfen.

Ich glaube nicht, „das fünf oder sechs ‘Staaten’ Seite an Seite existieren können mit „genau“ dem gleichen Nutzen wie eine entsprechende Anzahl von Kirchen. In den Beziehungen die Staaten unterhalten gibt es viel mehr Potenzial für Spannungen als in religiösen Bereichen. Aber andererseits wären die Spannungen, die zwischen einer Vielzahl von Staaten entstehen könnten, nichts als eine Lappalie gegen die Unzahl von Unterdrückung und Ungerechtigkeit, die sich sukzessive durch einen einzigen aufgezwungenen Staat aufhäuft. Für einen Polizisten eines „freiwilligen Staats“ wäre es nicht nötig zu wissen zu welchem „Staat“ eine bestimmte Person gehört, oder ob er überhaupt einem angehört. „Freiwillige Staaten“ könnten und würden wahrscheinlich ihrer Exekutive erlauben, gegen eine Besetzung vorzugehen, egal wer der Besetzer oder Besetzte auch immer wäre. Mr. Read wird wahrscheinlich einwerfen, dass der „Staat“ dem der Besetzer angehört seine Festnahme selbst als Besetzung ansieht und gegen den „Staat“ der ihn festnimmt, vorgeht. Die Erwartung solcher Konflikte würde wahrscheinlich genau zu den Verträgen zwischen „Staaten“ führen, die Mr. Read für so wünschbar hält und zur Bildung von bundesstaatlichen Gerichten als letzte Instanz. Dies durch die Zusammenarbeit der verschiedenen „Staaten“, auf der Basis von freiwilligen Prinzipien in Übereinstimmung mit denen, nach denen sich die „Staaten“ selbst organisiert haben.

Freiwillige Besteuerung, keineswegs die Kreditwürdigkeit des „Staates“ beeinträchtigend, würde es stärken. In erster Linie würde die Vereinfachung  seiner Funktionen, die Notwendigkeit Kredite zu geben stark reduzieren, wenn nicht sogar total unnötig machen. Die Stärke, Kredit zu erteilen, ist im allgemeinen umgekehrt proportional zu der Beständigkeit der Nachfrage. Es ist im allgemeinen der unverbesserliche Schuldner dem Kreditwürdigkeit fehlt. In zweiter Linie hängt die Macht des Staates etwas abzulehnen und dennoch seine Geschäfte weiterzuführen, von der Macht zur obligatorischen Besteuerung ab. Er weiss, dass selbst wenn er keine Kredite mehr geben kann, er immer noch die Möglichkeit hat, seine Bürger bis an die Grenze zur Revolution zu besteuern. Des weiteren vertraut man dem Staat, nicht weil er über den Menschen steht, sondern weil der Kreditgeber davon ausgeht, dass der Staat seine Kreditwürdigkeit behalten will und daher seine Schulden bezahlt. Dieser Wunsch nach Kreditwürdigkeit wird in einem „Staat“, der durch freiwillige Besteuerung unterhalten wird, ausgeprägter sein, als als in einem Staat der Besteuerung erzwingt.

Alle Einwände die Mr. Read vorbringt (mit Ausnahme des Organismus Arguments) sind lediglich Schwierigkeiten administrativer Art, die mit Scharfsinn, Geduld, Ermessen und Zweckmässigkeit überwunden werden können. Sie sind keine natürlichen Schwierigkeiten, keine Schwierigkeiten prinzipieller Art. Sie erscheinen ihm „enorm“, aber so erschienen auch vor zwei Jahrhunderten die Schwierigkeiten sich die Gedankenfreiheit vorzustellen. Was denkt er über die Schwierigkeiten des bestehenden Regierungssystems? Augenscheinlich ist er ihnen gegenüber so blind wie die katholische Kirche gegenüber den Schwierigkeiten einer Staatsreligion. All diese „enormen“ Schwierigkeiten die in der Fantasie der Opponenten des Prinzips der Freiwilligkeit auftauchen, werden schrittweise verschwinden unter dem Einfluss wirtschaftlicher Änderungen und weit verbreitetem Wohlstand die auf die Annahme dieses Prinzips folgen werden. Dies nennt Proudhon „ die Auflösung der Regierung in einem wirtschaftlichen Organismus“. Die Behandlung des Themas würde hier zu weit führen, aber falls Mr. Read wirklich die anarchistische Theorie dieses Prozesses zu verstehen wünscht, soll er das wunderbarste von allen wunderbaren Proudhon Büchern lesen, die „Idée générale de la révolution au dix-neuvième siècle“. (Die allgemeine Idee der Revolution im 19.ten Jahrhundert)

Es stimmt, dass „die Geschichte eine fortlaufende Schwächung des Staates in gewissen Richtungen aufweist und eine beständige Stärkung in anderen Richtungen“. Zumindest ist dies allgemein gesprochen die Tendenz, obwohl diese Entwicklung manchmal durch Zeiten von Rückschlägen unterbrochen wurde. Diese Tendenz ist einfach das Fortschreiten der Entwicklung hin zur Anarchie. Der Staat greift immer weniger ein und beschützt immer mehr. Dies ist genau im Einklang mit dem Ablauf dieser Entwicklung und am Ende davon verlangen die Anarchisten, die Aufgabe der letzten Bastion der Eingriffe durch den Ersatz von freiwilliger statt zwangsweiser Besteuerung. Wenn dieser Schritt gemacht ist, wird der „Staat“ seine maximale Stärke als Beschützer gegen Aggression erreichen und diese bewahren, solange seine Dienste in dieser Funktion benötigt werden.

Falls Mr. Read indem er sagt, dass die Macht des Staates nicht beschränkt werden kann, nur meint, dass sie nicht gesetzlich eingeschränkt werden kann, taugt dies nicht als Antwort an Anarchisten und Befürworter freiwilliger Besteuerung. Sie schlagen nicht vor, sie gesetzlich zu beschränken. Sie schlagen vor, ein allgemeines Empfinden zu entwickeln, dass es dem Staat unmöglich macht, Steuern zwangsweise zu erheben oder in irgendeiner Form in die Belange eines Individuums einzudringen. Da sie den Staat als ein Instrument der Aggression betrachten, erwarten sie nicht ihn davon überzeugen zu können, dass Aggression gegen seine Interessen ist, aber sie gehen davon aus, die Menschen überzeugen zu können, dass es gegen ihre Interessen ist, in ihre Belange einzudringen. Wenn sie es schaffen auf diese Art den Staat seiner invasiven Macht zu berauben, werden sie zufrieden sein und es ist unwesentlich für sie, ob diese Möglichkeit mit dem Wort „beschränkt“ oder mit irgendeinem anderen Wort umschrieben wird.

Tatsächlich habe ich mich in dieser Diskussion bemüht, mich Mr. Read‘s Ausdrucksweise anzupassen. Ich für mich denke, es ist nicht passend freiwillige Gesellschaften Staaten zu nennen. Indem ich das Wort in Anführungszeichen gesetzt habe, habe ich es verwendet, weil Mr. Read es als Beispiel benutzt.

 


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