Notiz
Dieser Text ist verschiedene Male dem Historiker und Theoretiker der Anarchie Max Nettlau zugeschrieben worden.
Wie von ihm selber in seiner Geschichte der Anarchie klargestellt wurde, handelt es sich um eine Konferenz, die 1904 von Dr.M-n (Dr. J.A.Maryson) in New York unter dem Titel : Some Misconceptions of Anarchism - abgehalten wurde.
Für den Autor ist die Anarchie - eine freiwillige Organisation anstatt einer autoritären Organisation-. Das bedeutet auch, dass jeder sich vom Staat trennen kann -Sezession- und seine eigene soziale Struktur gemäss den ökonomischen Prinzipien -Kommunismus, Kapitalismus, Genossenschaftswesen- die ihm am geeignetsten erscheinen, errichten kann. Welchen dieser "ismen" der einzelne Mensch realisieren will, ist nicht eine Frage die die Anarchisten zu entscheiden haben, sondern die freie Wahl jedes einzelnen. Der Wille, die Anarchie als eine soziale Theorie darzustellen, die den Kommunismus oder den Kapitalismus - Individualismus - preist, ist gemäss dem Autor, Teil der falschen Ansichten über den Anarchismus.
Diese Sicht lässt die Anarchie sehr stark wie die Panarchie von Paul Emile de Puydt erscheinen.
Quelle: J. A. Maryson, Quelques idées fausses sur l’Anarchisme, 1905.
Der Anarchismus kann in drei Kategorien aufgeteilt werden:
- Die revolutionäre Schule von Bakunin und Kropotkin unter der Bezeichnung anarchistischer Kommunismus,
- der ethische oder philosophische Anarchismus von Godwin, Proudhon und Tucker,
- und schliesslich der religiöse Anarchismus von Tolstoi.
Dabei sollte man nicht vergessen, wenn man über die falschen Ansichten die einige vom Anarchismus haben, dass nicht nur jede dieser Tendenzen falsch interpretiert wird, sondern dass die Verwirrung sogar in der Existenz der genannten Tendenzen begründet ist. Denn diese sind in ihren Extremen zwangsläufig gegensätzlich.
Desgleichen bilden die, die falsche Ansichten über den Anarchismus in Umlauf setzen oder sich falsche Vorstellungen machen, sehr voneinander verschiedene Gruppen. Um unsere Ausführungen leichter verständlich zu machen, teilen wir sie ebenfalls in drei verschiedene Typen auf:
- Die Konservativen, die jeden radikalen Vorschlag zur sozialen Erneuerung verabscheuen und fürchten,
- die Sozialisten und andere Reformer, die es nicht ertragen, dass man ein anderes Ziel verfolgt, als das welches sie vorschlagen,
- und schliesslich die Anarchisten selbst, die glauben, sie allein seien im Besitz der Wahrheit.
Diese falschen Ansichten sind zahlreich und unterschiedlich, aber dies ist nicht der Ort, um sie alle zu überprüfen. Ich beschränke also meine Betrachtungen auf einige von ihnen und besonders die, die sich auf die revolutionäre Schule beziehen, da diese die grösste Aufmerksamkeit auf sich zieht, die grösste Missbilligung hervorruft und die am wenigsten verstandene ist.
Die erste und wichtigste der falschen Vorstellungen von Anarchie, in gutem Glauben oder mit Absicht gestützt von Freunden und Gegnern, ist die Ansicht, dass Anarchie, Kommunismus und Revolution eine untrennbare Trinität bilden, wodurch die Vorstellung entsteht, dass die Anarchie die Hand der blutigen Revolution ist und die andere die des Evangeliums des Kommunismus. Es entsteht der Eindruck, die Revolution sei zwangsläufig blutig und der Kommunismus eine unvermeidliche wirtschaftliche Notwendigkeit.
Man kann nicht einmal abstreiten, dass die Entstehung solch falscher Ansichten durch die Lehren einiger Propagandisten der Anarchie selbst hervorgerufen werden. Wie jede Verallgemeinerung die nicht von Indizien abgeleitet ist, ist auch die Konzeption des Anarchismus kühn aber vage. Wie viele andere Ideen auch, konnte sich der Anarchismus am Anfang nicht dem Einfluss ähnlicher Ideen entziehen.
Die Geburt des Anarchismus fällt in die revolutionären Jahre 1848-1871. Das Bewusstsein der grossen französischen Revolution war noch immer präsent, immer noch frisch in den Köpfen des Volkes, die Atmosphäre war erfüllt vom Wunsch nach politischen und sozialen Änderungen und das Streben der Menschen drückte sich in den kühnsten Ideen aus. Der Bau von Barrikaden war zu dieser Zeit noch eine florierende Industrie. Es war just in dieser Zeit als abstrakte Verfassungen und soziale Systeme fabriziert wurden, als das antiautoritäre System entstand.
Die heftigsten Kritiken gegen die Tyrannei des Staates fanden naturgemäss die Zustimmung der ungeduldigsten und am meisten verfolgten Revolutionäre jener Zeit. Das Ideal einer Gesellschaft ohne Obrigkeit, anarchistisch, trieb sie zu einem verbissenen Willen gegen die etablierten Mächte zu handeln. Ihre erwachende Liebe zur Menschlichkeit konnte nur durch die höchste Verkörperung von Brüderlichkeit, durch die Verwirklichung des brüderlichen Kommunismus gestillt werden.
Aber wenn es auch, historisch gesehen, sicher ist, dass die ersten Anarchisten vor allem revolutionäre Kommunisten waren, so folgt daraus nicht zwangsläufig, dass ein Anarchismus ausserhalb der wirtschaftlichen Prinzipien des Kommunismus und ohne Zuflucht zu Gewalt, unmöglich ist. Theoretisch gibt es keine wesentliche Verbindung zwischen den drei Konzepten, obwohl eine ganze Menge von Leuten an dieser Trinität als ein Ganzes glauben. Diejenigen, die nicht an die Notwendigkeit einer Regierung glauben, können oder können nicht, Anhänger der Revolution und der Propaganda sein und können den Kommunismus befürworten oder nicht.
Die Garantie für Freiheit in den gesellschaftlichen Beziehungen, das Prinzip des freien Wettbewerbs, das Recht auf Trennung von einer gesellschaftlichen Organisation, setzt, wie ich später noch eingehender erklären werde, eine einzige fundamentale wirtschaftliche Bedingung voraus, nämlich: Gleichwertigkeit der Mittel um wirtschaftliche Unabhängigkeit zu erhalten. Andererseits ist der amerikanische Anarchismus, wie ihn sein Begründer Josiah Warren und später sehr anschaulich Thoreau darstellt, absolut frei von den kommunistischen und revolutionären Vorgehensweisen. Der Anarchismus von Benjamin Tucker, im allgemeinen der logischste und konsequenteste, ist entschieden gegen das kommunistische System und ausgesprochen friedlich in seiner Veranlagung. Proudhon selbst versuchte die Anarchie mittels einer Volksbank und Arbeitsbörse einzuführen.
Es liegt daher auf der Hand, dass die Gleichstellung des Anarchismus mit dem Kommunismus und der Revolution seiner Theorie und seinen Auftritten in der Geschichte widerspricht. Trotzdem wird diese angebliche Gleichstellung immer wiederholt, sei es in gutem Glauben seitens der Sympathisanten, die es allerdings besser wissen müssten, sei es mit Absicht seitens der Reaktionäre und sozialistischen Politiker, die davon profitieren, diesen Irrtum aufrecht zu erhalten um die Anarchisten beim Volk zu diskreditieren.
Als Beispiel dieser gewollten Unwissenheit über den Anarchismus zitiere ich einige Ausschnitte aus einem vor einigen Monaten erschienenen Buch, das von der amerikanischen sozialistischen Presse mit Lob überhäuft wurde und als beeindruckendes Buch eines beeindruckenden Mannes dargestellt wurde. Auf Seite 332 der Geschichte des amerikanischen Sozialismus kann man folgendes lesen:
Indem die Anarchisten sich weigern den organischen Charakter der menschlichen Gesellschaft anzuerkennen, leugnen sie den schrittweisen und logischen Verlauf ihrer Entwicklung. Die Welt wäre zu jeder Zeit gemäss dem Willen der radikalsten Revolutionäre gestaltet und für das Wohlergehen des Volkes wäre nur ein Handstreich entschlossener und fähiger Männer, bereit ihr Leben zu riskieren nötig, um das unterdrückte Volk zu befreien.
Ihrem Standpunkt entsprechend weisen die Anarchisten politische Tätigkeit als schädliche Farce zurück und halten die Anstrengungen der Arbeitervereinigungen und der sozialistischen Bewegung, die versuchen die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse zu verbessern, für unnötig. So als ob diese reaktionäre Mittel wären, um die Revolution zu verzögern indem man die Unzufriedenheit der Arbeiter mit ihrem jetzigen Zustand unterdrückt. Die Bestrebungen der Anarchisten gehen dahin Aufruhr zwischen den Armen zu säen und einen persönlichen Krieg zu führen mit all jenen, die sie für jegliche soziale Ungerechtigkeit verantwortlich halten, nämlich die Grossen und die Mächtigen aller Nationen. Ihre Waffe ist die Propaganda in Worten und in Taten.
Dieser bemerkenswerte Mann scheint nicht einmal eine simple anarchistische Broschüre gelesen zu haben. Jeder Ausdruck in diesen Passagen ist eine absurde Interpretation der leidenschaftlichen Reden die der revolutionäre Veteran John Most vor ungefähr 15 Jahren hielt. Die anarchistische Theorie wird leider so schlecht verstanden, dass ein solcher Schwall von Absurditäten sogar bei den Intellektuellen Anklang findet. Ganz zu schweigen von den gottesfürchtigen Lesern die von ehrlichem Abscheu gepackt werden, angesichts der “ gefährlichen Theorien dieser schrecklichen Verrückten, die sich Anarchisten nennen.”
Eine der bedeutendsten falschen Vorstellung über den Anarchismus über die man reden muss, da sie seinen wesentlichen Grundsatz betreffen, ist die die sich mit der Vorstellung der individuellen Freiheit befasst.
Man missbraucht diese Redensart oft. Im Namen der Freiheit verteidigen die zufriedenen Bürger die Knechtschaft von heute bis zum äussersten und für ihre Nachfolger, für den Sozialismus der die politische Macht anstrebt, ist Freiheit perfekt vereinbar mit zukünftiger Knechtschaft.
Der Anarchismus wird verabscheut, weil man vermutet, er sei Parteigänger einer grenzenlosen Freiheit und grober Zügellosigkeit die das gesamte soziale Leben zerstören könnten. Selbst die Anarchisten können sich nicht auf eine Definition der individuellen Freiheit einigen. Die philosophische Schule richtet sich nach Spencers Formel der gleichberechtigten Freiheit, das heisst, dass jeder frei sein soll, zu tun und zu lassen was ihm gefällt, solange er nicht die Freiheit Anderer verletzt. Das Problem löst sich allerdings so nicht, denn die Formel enthält keine Definition dieser einschränkenden Bedingung. Was stellt denn überhaupt eine Beeinträchtigung der Freiheit Anderer dar? Diese Frage taucht früher oder später wieder auf und scheint fundamental zu sein. Denn hier ist nicht das Prinzip der Freiheit die Richtschnur sondern die Grenzen der Freiheit. Dies wiederum führt uns zurück zur Konzeption der durch die Gesetze der alten bürgerlichen Gesellschaft geregelten garantierten Freiheit.
Die “nicht philosophische” Schule des Anarchismus weist eine solche Auffassung zurück. Für ihre Anhänger heisst Freiheit nichts weniger als jener idyllische Zustand, in dem jeder nicht nur frei ist zu tun was ihm passt, sondern auch “Alles” auszukosten und zu geniessen. Sie vertrauen, antiphilosophisch sicherlich, auf die der menschlichen Natur innewohnende Güte und lehnen jegliche Eingrenzung der Freiheit ab. Es ist dieses Streben der kommunistischen Anarchisten nach einer perfekten Freiheitsidylle, die die wohlwollenden aber vorsichtigen Erneuerer zu folgender sympathischer Meinung veranlasst: “Der Anarchismus ist sicherlich ein schönes Ideal, aber praktisch undurchführbar.”
Folglich haben wir einen Anarchismus, der von den einen als eine teuflische Theorie des Unheils und des Durcheinanders verabscheut wird und von den anderen wie ein wunderbarer, aber nicht realisierbarer Traum idealisiert wird. Doch die Freiheit die die Anarchisten anpreisen ist weder so schrecklich, dass sie ein Chaos auslösen würde, noch so aussergewöhnlich, dass ihre Verwirklichung unmöglich wäre. Man hat sie ganz einfach falsch verstanden. Man redet von der Freiheit immer als einer positiven Kraft, einer Waffe, von der der Einzelne guten oder schlechten Gebrauch machen kann. Oft hört man sagen: “Gib einem Menschen Freiheit und er wird sie missbrauchen, um seinem Nächsten schlechtes zu tun.” Oder das Gegenteil: ”Gib einem Menschen Freiheit und er wird freundlich und voller Rücksichtnahme gegen seinen Nächsten sein.” Aber die Freiheit ist keine Sache die man geschenkt bekommt. Sie ist weder ein Eigentumstitel noch ein versiegeltes Recht mit dem wir machen können was uns gefällt. Im Grunde ist die Freiheit ein einfacher Zustand, eine Verneinung, die Abwesenheit von etwas bestimmten in ihren Erscheinungen, nämlich die Abwesenheit von Unterwerfung.
Die Freiheit ist also ein sozialer Zustand und nicht ein individuelles Recht. Ausserhalb der Gesellschaft können wir uns die Freiheit in keiner Art und Weise vorstellen. Wir können uneingeschränkt alles machen was wir wollen, ohne dass daraus ein Zusammenhang mit der Frage der Freiheit entsteht. Unsere Handlungen haben nur dann eine Bedeutung wenn sie andere beeinflussen, wenn sie eine bestimmte Beziehung zu den Handlungen anderer haben, das heisst wenn sie soziale Handlungen darstellen. Wenn wir über Freiheit sprechen, machen wir also nichts weiter als das Verhältnis unserer Handlungen zu denen Anderer zu bestimmen, wir zeigen unter anderem, dass unsere Tätigkeit nicht diejenige anderer Personen beeinträchtigen darf. In den Beziehungen von Mensch zu Mensch heisst frei zu sein auf keinen Fall, die Macht zu haben andere zu führen. Dies bedeutet den Nutzen, der sich aus der negativen Voraussetzung nicht von ihr geführt zu werden ergibt, zu vergrössern.
Man sagt oft: es ist sehr schön über die zukünftige perfekte Freiheit zu reden, dann, wenn sich das altruistische Bewusstsein entwickelt und die egoistischen Verhaltensweisen abgelöst hat und wie Spencer es sagt, dass Interesse der Menschen hauptsächlich darin besteht, sich gegenseitig zu helfen. Aber unter den aktuellen Verhältnissen der Menschheit und den komplizierten Interessenkonflikten, braucht es eher Beschränkungen statt Freiheit als Richtschnur der sozialen Organisation. All das falsche, trügerische dieser Parolen ist auf eine irrige Vorstellung der Freiheit zurückzuführen. Es geht nicht darum, Opfer zugunsten anderer zu bringen. Die Freiheit entwickelt keinen Altruismus, keine Vorstellung der gegenseitigen Unterstützung. Keinerlei Zwang, kein Müssen zugunsten Anderer, nur den reinen Egoismus, der auf die Befreiung des Individuums abzielt.
Individuelle Freiheit bedeutet nicht, dass jeder tun kann was ihm gefällt, unter der ausgesprochenen oder stillschweigenden Bedingung, seinen Nächsten nicht zu belästigen, sondern, dass jeder lassen kann, das zu tun, was ihm nicht gefällt, ohne irgendeine Bedingung. Wenn die individuelle Freiheit mit der sozialen Struktur unvereinbar ist, umso schlechter für die Letztere.
Lassen sie das Individuum sein: Zwingen sie es nicht im Namen der Gesellschaft Dinge zu tun, die es nicht für notwendig hält und sie werden es nicht nötigen müssen das zu tun was es braucht. Der Zweck der Gesellschaft ist die Entfaltung des Individuums und nicht umgekehrt. Die soziale Organisation ist nur insofern wichtig, dass sie die Auslegung der individuellen Initiativen erleichtert: je grösser die individuelle Freiheit ist umso mehr nähert sie sich ihrem Ziel.
Anarchismus ist die Verneinung autoritärer Organisation, aber natürlich nicht aller Organisation. Er verleugnet weder das grundlegende Wesen der Gesellschaft, noch den stufenweisen Verlauf ihrer Entwicklung. Allerdings, auch wenn man den grundlegenden Charakter der Gesellschaft begreift, folgt daraus nicht, dass sie wie ein Organismus im eigentlichen Sinne des Wortes konzipiert ist, das heisst ein Etwas, dem alle Organe aus dem es besteht gehorchen, wie Sklaven dem Willen einer zentralen Macht.
Die politische Organisation einer Gesellschaft ist komplett verschieden von der Konzeption einer biologischen Struktur. Die Gesellschaft ist eine Organisation ohne besondere Organe und gegründet nur aufgrund gegenseitiger Beziehungen von Individuen. Was ist das Wesen dieser gegenseitigen Beziehungen? Darauf müssen die politischen Wissenschaften eine Antwort geben.Wie müssten, oder besser gesagt wie wird das Wesen dieser gegenseitigen Beziehungen in der Zukunft sein? Der Anarchismus lehrt, dass es libertär sein wird, dass die gegenseitigen Beziehungen, d.h. die soziale Organisation freiwillig und nicht autoritär sein muss.
Das Individuum ist keiner Person oder Gruppe von Personen zu Gehorsam oder Treue verpflichtet. Er ist frei, absolut frei, seine Kräfte mit denen die ihm gleich scheinen zu verbinden, für die Zwecke und mit den Mitteln die ihm am besten zusagen, oder isoliert zu bleiben und nicht an einem Projekt teilzunehmen und daher auch nicht die Vorteile jeglicher sozialen Aktivität geniessen zu können. Das Prinzip der individuellen Freiheit beinhaltet das Recht der Trennung, das Recht sich jederzeit von einer bestehenden politischen Organisation zu lösen, das Recht was man nicht für nötig empfindet zu unterlassen, das Recht sich nicht den Entscheidungen der Mehrheit anzupassen, zusammengefasst das absolute Recht auf den Besitz seiner eigenen Person.
Die Idee des Anarchismus, die des Staates in all seinen Erscheinungen und Formen, stützt sich auf die Vorstellung, dass ein Teil der Gesellschaft- eine Minderheit in der oligarchischen Form des Staates - eine Mehrheit in der demokratischen Form des Staates, das Recht hat, alle Anderen zu zwingen seinen Willen auszuführen. Alle Staatsformen verneinen im Prinzip das Recht ihrer Mitglieder sich einzeln oder in Gruppen von ihnen zu trennen. Kein einziger Staat gestattet in seiner Gerichtsbarkeit die Existenz einer anderen politischen Organisation, die sich seiner Autorität nicht unterwirft. Für die Parteigänger der Regierung gibt es nichts gefährlicheres als ein “ Staat im Staat “. Der Anarchismus unterstützt hingegen einen Standpunkt der diametral zum Unterdrücker Staat steht. Er befürwortet die individuelle Wahl anstatt der Herrschaft der Mehrheit, die Freiheit die Befehle der Obrigkeit nicht auszuführen, kurz die freiwillige Organisation anstatt der autoritären Organisation.
Der Anarchismus will nur das, nichts weiter. Und nun werde ich mich mit einer weiteren falschen Vorstellung des Anarchismus befassen.
Man glaubt, oder zumindest behauptet man unablässig, dass der Anarchismus ein besonderes Wirtschaftssystem voraussetzt ohne das er nicht machbar oder erfolgreich sein könnte. Ich rede nicht gegen die Anarchisten, die den Kommunismus vorziehen, oder gegen Privatbesitz oder gegen irgendein System als eine wünschenswerte wirtschaftliche Voraussetzung als solche, ich rede nur gegen diejenigen, die in dem einen oder anderen der hier genannten Systeme eine unbedingte Voraussetzung für die Entwicklung einer anarchistischen Organisation sehen und bestreiten, dass es einen Anarchismus geben könnte, der nicht einen weiteren “ismus” mit sich bringt. In dieser Beziehung sind beide, sowohl die Kommunisten als auch die Individualisten, zweideutig. Das Argument der Ersteren ist, dass der Mensch nicht eher frei sein kann bevor nicht alles was er braucht, d.h. sowohl die Güter des Bodens als auch seinen Anteil an der Produktion, geniessen kann. Und, darüber hinaus, dass die Gleichheit der Vermögen eine absolute Notwendigkeit zur Erhaltung der Freiheit ist.
Das Argument der Individualisten, Befürworter des Privateigentums, besteht darin, dass das Gemeinwesen in erster Linie eine Ausbeutung der Starken durch die Schwachen darstellt, und dadurch den Fortschritt des Volkes behindert und ganz allgemein mit einem Verlust der Freiheit der Stärkeren zugunsten der Schwächeren einhergeht.
Den Kommunisten würde ich antworten: Ihr könnt in dieser Welt nicht vollständig frei sein, da ihr auch im Kommunismus weder immun gegen Krankheiten, Gebrechen oder den unausweichlichen Tod seid, noch gegenüber den Übeln und Schmerzen die dem menschlichen Körper und Geist inhärent sind. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass selbst ein Kommunist einen “freien Willen“ über seine eigene Person hat.
Ich will damit nicht sagen, dass es nicht wünschenswert wäre, all diese Freiheiten zu erhalten, aber ich bestreite kategorisch, dass wir ohne sie die vom Anarchismus angepriesene Freiheit nicht geniessen können. Erinnern wir uns, dass die von den Anarchisten vorgesehene Freiheit darin besteht, nicht teilzunehmen an etwas was man nicht für nötig befindet und durch keine Organisation zu irgendeiner Unternehmung, die man nicht von sich aus gewählt hat, gezwungen zu werden. Darin besteht sozusagen die ganze anarchistische Freiheit und das beschreibt auch den ganzen Anarchismus. Der Rest ist nur eine Frage des Ermessens und freiwilligen und von den Umständen abhängigen Vereinbarungen.
Alles was es braucht, um dem Einzelnen eine von jedwelcher Macht unabhängige Freiheit zu garantieren ist, geistige Gesundheit vorausgesetzt, wirtschaftliche Unabhängigkeit. Diese muss gewährleistet sein durch gleiche Voraussetzungen für Alle für den Zugang zu den Schätzen der Erde und der Natur. Wenn diese Bedingung erfüllt ist, kann der Mensch mittels gegenseitiger Vereinbarungen in einer freiwillig geschaffenen Organisation, frei und glücklich leben. Nicht durch die Gleichheit des Vermögens, sondern durch die Gleichheit der Möglichkeiten zusätzlich zur Freiheit, entsteht Brüderlichkeit. Wie könnten die Stärksten und Schlauen die Schwächeren und weniger Schlauen unterdrücken, wenn diese stark genug wären, sich auf der Grundlage der Gleichheit der Mittel genügend Ressourcen zu verschaffen, um unter sich und frei zu bleiben?
Im übrigen haben die von den Individualisten geäusserten Befürchtungen, hinsichtlich eines freiwilligen und gegenseitig vereinbarten Kommunismus, keinerlei Berechtigung. Die Gegenseitigkeit kennt keine Ausbeutung. Jemand, der nicht gezwungen wird bestimmte Bedingungen zu akzeptieren, kann auch nicht ausgebeutet werden. Und ganz gewiss hat niemals ein Anarchist daran gedacht, jemanden zum Kommunismus zu zwingen. Was den Fortschritt der Menschheit anbetrifft, so gewinnt die Idee, dass gegenseitige Unterstützung sie weit mehr als alles andere sie voranbringt, es ist also nicht nötig es zu betonen.
Überdies ist dieser Wettbewerb zur weltweiten Einführung eines speziellen Wirtschaftssystems als das Produkt einer falschen Konzeption für den sozialen Fortschritts zu betrachten. Die Dinge werden auch in Zukunft dem Weg des geringsten Widerstandes folgen, ganz wie in der Vergangenheit, aber wer könnte schon die Wege aufzeigen denen die menschlichen Bedürfnisse folgen, um eine entsprechende Zufriedenheit zu erreichen.
Die Welt ist gross genug, sowohl für die Betätigung von Kommunisten als auch von Individualisten. Das ist Anarchismus.