Stefan Blankertz

Anarchokapitalismus. Gegen Gewalt
(Auszug)

(2015)

 



Anmerkung Christian Rode

Stefan Blankertz entwickelt in diesen Kapiteln aus seinem Buch „Anarchokapitalismus. Gegen Gewalt“ ausgehend von der Staatstheorie Rousseaus seine Vorstellung einer Gesellschaft, die allein auf freier Vereinbarung beruht. Anders als etwa im Text von Anonymous „Demokratie mit kleinem d“ (1962) dient ihm das kapitalistische Wirtschaften nicht nur als Analogie, sondern als Gesellschaftsmodell. Der Text verzichtet in dieser Fassung auf die Fußnoten und Erläuterungen, die in der Buchausgabe vorhanden sind.

 


 

39.

JEAN JACQUES ROUSSEAU Dass eine Mehrheitsbildung die Demokratie gefährde, wusste bereits der vielbescholtene Jean-Jacques Rousseau. Im »Contrat Social« sagte er, die Frage, die die Mehrheit zu beantworten habe, dürfe nicht lauten, »was ist für uns das Beste«, sondern: »was ist für ›das Ganze‹ am Besten«. Das ist ganz konsequent. Denn wenn in einer Wahl jeder für das stimmt, was für ihn selber den größten Vorteil bringt, haben wir am Ende bloß die Situation, dass das für die Mehrheit Beste über das für die Minderheit Beste siegt; formal ist das nicht legitimer, als wenn das für die Minderheit Beste über das für die Mehrheit Beste bestimmt, wie es in einer Diktatur der Fall ist.

40.

Auf zwei Fragen allerdings bleibt Rousseau uns praktische Antworten schuldig. Erstens: Was macht ihn so sicher, dass die Mehrheit das für alle Beste kennt? Zweitens: Wie stellen wir sicher, dass ein jeder in der Wahl die Frage nach dem Allgemeinwohl beantwortet?

41.

Wenn ich sage, Rousseau habe darauf keine überzeugenden Antworten, so gilt das für den ausformulierten Teil seiner Theorie und für den Hauptstrom der Rousseaurezeption. Denn versteckt hat er eine Lösung. Sie beginnt schon mit der Formulierung, es handele sich um einen Vertrag. Ein Vertrag, der sich nicht mehr zum Vorteil aller Partner auswirkt, wird gelöst. Unlösbare Verträge kann es nicht geben, denn sie würden Sklaverei begründen. Rousseau selber muss eingestehen, dass der Sozialvertrag bloß für solche Personen gelten könne, die zugestimmt haben. Darüber hinaus muss er eingestehen, dass keiner für jemand Anderen zustimmen dürfe, mithin nicht etwa die Eltern für ihre Kinder. Insofern konstituiert der »Sozialvertrag« von Beginn an weder ein lückenloses Staatsgebiet, noch einen Staat auf Dauer. Auch hätte Rousseau eingestehen müssen, dass der Vertrag lösbar sei. Denn genau gegen die These von Thomas Hobbes, jede Veränderung der tradierten Struktur des Staats würde den Rückfall in den Krieg Aller gegen Alle mit sich bringen, hat Rousseau seine Schrift gerichtet. Rousseau geht gerade nicht davon aus, dass im Staat ein »Automatismus« für die Erhaltung guter Absichten bestehe, auch im demokratischen Staat nicht. Ganz im Gegenteil schreibt er, sogar ein Staat mit der am besten eingerichteten Verfassung tendiere zur Degeneration. Er war demnach weit entfernt von der Vorstellung heutiger Vertreter demokratischer Staaten, wenn der Staat einmal als demokratischer konstituiert sei, gäbe es kein Recht auf Widerstand mehr. Vielmehr bestünde eine konsequente Auslegung von Rousseau darin, dass es ein Austrittsrecht aus dem Staat geben müsse.

42.

»Austrittsrecht aus dem Staat« – das hört sich eventuell zunächst radikal an, utopisch, gar absonderlich. Ist es jedoch nicht. Nehmen wir etwa die aktuellen Diskussionen, welche Kompetenzen die Europäische Union habe oder übertragen kriegen solle. Das Entscheidende dieser Diskussionen dreht sich nicht um die Frage der formalen Entscheidungsfindung in der Europäischen Union, vielmehr hierum: Über was und über wen darf sie überhaupt entscheiden, und zwar egal mit welchem Entscheidungsverfahren? Die Europäische Union können wir gleichsam als einen »Sozialvertrag im Werden« ansehen. So romantisch, wie es mit einem charismatischen »Gesetzgeber« an der Spitze Rousseau beschreibt, läuft das nicht ab. Es sind hunderte und tausende von Bürokraten am Werke, was Rousseau sicherlich befremden und ihm arges Albdrücken bereiten würde. Aber sei es drum. Bei der Europäischen Union steht nicht bloß, und gar nicht vornehmlich, das Entscheidungsverfahren zur Debatte, sondern die Frage, wer wieviel seiner Macht an die Zentrale abgibt. Es geht aber auch um die Option eines möglichen Wiederaustritts oder eines Ausschlusses bei Nichtbeachtung von den vereinbarten Regeln. Keineswegs verhält es sich so, dass die Europäische Union über ein definiertes Staatsgebiet eine »natürliche« Verfügungsgewalt beanspruchen könne (reziprok zu dem Austrittsrecht gibt es – wohlgemerkt – ein Ausschlussrecht gegenüber missliebigen Mitgliedern).

43.

Jene Kräfte, die sich gegenwärtig gegen den weiteren Ausbau der Europäischen Union und ihrer Zuständigkeiten wenden oder sogar eine Rücknahme von erfolgter Zentralisation anstreben, tun das in den meisten Fällen namens nationaler Souveränität und Eigenständigkeit. Die »schlechte« Nachricht, die ich für euch habe, lautet: Wenn ihr das Prinzip der Vertragsfreiheit und damit auch der Auflösung des Vertrags, mithin des möglichen Austritts aus der Europäischen Union proklamiert, gibt es auch gar keinen logischen Grund mehr, das Sezessionsrecht innerhalb der Nationen zu beschränken, welche die Europäische Union gründeten, welche ihr beigetreten sind oder dies wollen. In hundert Jahren wäre das Gebiet der EU, Stabilität ihrer Institutionen vorausgesetzt, so natürlich oder unnatürlich, je nach Standpunkt, wie das der USA oder des Deutschen Kaiserreichs. Nach dem Zerfall der Sowjetunion oder Jugoslawiens zeigte sich, dass innerhalb der sie konstituierenden Nationen, die wieder selbstständig wurden, durchaus weitere Regionen existieren, die nach der Souveränität streben. Oftmals lässt sich der Prozess von fortschreitenden Sezessionen bloß stoppen mit nackter kriegerischer Gewalt.

44.

KRIEG IST KEINE OPTION Bei der Sezessionsthematik tritt uns das Problem des Verhältnisses der Mehrheit zu der Minderheit in einem gegebenen historischen Staatsgebiet besonders deutlich vor Augen. Darf etwa die Mehrheit der in Spanien lebenden Menschen darüber entscheiden, ob die Katalanen dazugehören müssen? Der Krieg in Bosnien verdeutlichte auf eine tragische Weise, dass das sezessionierte Gebiet solche Menschengruppen umschließen kann, die aus gut nachvollziehbaren Gründen zu dem neu konstituierten Staat nicht gehören wollen, und das ganz unabhängig davon, wie die formalen Entscheidungsstrukturen in diesem Staat aussehen.

45.

Während die Demokratietheorien davon ausgehen, die oberste Frage sei die der formalen Entscheidungsstrukturen, ist nun klar geworden, dass die Frage, die Rousseau stellt, zumindest indirekt, nämlich über wen entschieden werde, viel grundlegender ist und der Demokratie vorgelagert.

46.

Die zwei ersten Problembereiche von Demokratie sind: Die Wie-Frage [1]. Wie tritt eine demokratische Entscheidung dem individuellen Gewissen gegenüber? Mit Ernst Jünger (und Thomas von Aquin): Die demokratische Entscheidung kann formal keinen besseren Anspruch auf eine moralische Gültigkeit erheben als die diktatorische. Das individuelle Gewissen muss sie prüfen und sich ihr stellen, indem es ein autonomes Urteil über sie fällt. Unter keinen Umständen lässt jenes Gewissen sich an eine Mehrheit delegieren und diese kann das Gewissen nicht für sich reklamieren. Und die Wen-Frage [2]. Wen darf eine demokratische Entscheidung betreffen? Mit Jean-Jacques Rousseau: Die demokratische Entscheidung darf bloß denjenigen betreffen, der vorher zugestimmt hat, diesem Staat anzugehören. Jedem, der nicht zustimmt, tritt selbst eine demokratische Entscheidung als totalitäre gegenüber. Falls die demokratische Entscheidung sich auch auf nicht-zustimmende Personen erstreckt, stärkt sie die Tendenz zur Degeneration der Demokratie.

47.

Seit die Aufklärung dem Staat verordnete, sich vernünftig mit rationalen Gründen zu legitimieren, ist es eine zentrale Frage der politischen Theorie, was überhaupt der Staat denn entscheiden dürfe – wobei er etwas zu bestimmen und wobei er die Bürger nach Gutdünken walten zu lassen habe. Bis lange in das 19. Jahrhundert hinein bildeten demokratische Vorstellungen mit dem Eintreten für große persönliche und wirtschaftliche Freiheiten ein Team, das unter dem Namen »Liberalismus« firmierte. Die liberale Auskunft zur Frage, in welchen Bereichen Staatsgewalt regelnd eingreifen solle oder für was sie überhaupt vonnöten sei, lautet: Der Staat dürfe nichts weiter tun, als die Möglichkeitsbedingung der Freiheit aufrechtzuerhalten. Dieses minimalinvasive Konzept des Staats, später abwertend als »Nachtwächterstaat« verulkt, wurde in unterschiedlichen theoretischen Bezugsrahmen von Jean-Jacques Rousseau ebenso vertreten wie von Immanuel Kant, Wilhelm v. Humboldt oder John Locke. Thomas Jefferson fasste es pragmatisch zusammen in der Formel: »So wenig wie möglich …« und, natürlich, sagte er nicht »Staat«, sondern nur »Regierung«.

48.

Eine intellektuelle Unendlichkeit, zeitlich aber gar nicht so weite Strecke ist es bis zu dem, was ich die »Schmach der Demokratie« nenne, die dämonkratische Machtübergabe an die Nationalsozialisten in Deutschland 1933. Dass diese Machtübergabe von den Nationalsozialisten selber zu einer »Machtergreifung« oder sogar zur »Revolution« stilisiert wurde, ist ein großes Glück für die Demokraten, die immer wieder versuchen, die Tatsache wegzudiskutieren, dass es sich 1933 um einen völlig normalen Vorgang der Bildung einer Koalitionsregierung gehandelt hat.

49.

Aus der für alle Demokraten traumatisierenden Erfahrung der Machtübergabe an die Nationalsozialisten zogen sie den Schluss, eine Demokratie dürfe sich nicht selber abschaffen: Die Mehrheit dürfe nicht entscheiden, dass es keine Mehrheitsentscheidungen mehr geben solle. Mit diesem Schluss, mit diesem Verbot ist jedoch gar nichts gewonnen. Weil die Frage doch lauten müsste: Wer hindert denn die Mehrheit, welche die Demokratie abschaffen wollte, daran, dies zu tun? Wer? Und auch: Wie lässt sich es verhindern, dass die Mehrheit die Demokratie abschafft?

50.

Die repressive Härte des Versuches, die Mehrheit daran zu hindern, die Demokratie abzuschaffen, trifft unbedeutende und machtlose Außenseiter. Die KPD, die in der Bundestagswahl 1953 nur noch 2,2% holte, konnte man 1956 leicht verbieten, die »Linke« 2007 nicht mit, 2009, über 10% im Bund. Die NPD, die in der Bundestagswahl 2013 bei 1,3% lag, lässt sich ggf. verbieten, nicht die »Front National«, in der Europawahl 2014 mit 26% stärkste Partei Frankreichs. Vielleicht lässt sich der eine oder andre fundamentalistische Verein in Deutschland noch relativ lautlos mundtot machen, nicht die Muslimbruderschaft in Ägypten. Da müssen »undemokratische« Mittel her. Gegenüber Ländern, in welchen Islamisten die Mehrheit erlangt haben und die »Scharia« als Rechtssystem einsetzen wollen, unterstützt die westliche demokratische Welt Militärputsche. In Atatürks Verfassung der Türkei konnte seit 1928 felsenfest verankert sein, dass es eine Trennung von Staat und Religion gebe, als die Mehrheit es mit Erdogan 2002 anders wollte, wer hinderte sie daran?

51.

Der liberale Grundsatz, der Staat solle, egal auf welche Art etwas entschieden werde, möglichst wenig entscheiden und möglichst viel der Willkür der Bürger überlassen, wird im politischen Tageskampf zur beliebigen Knetmasse, wird der prinzipiellen Bedeutung entkleidet. Ich illustriere dies mit zwei Beispielen, einmal links, einmal rechts. Wer etwa gegen Abtreibung ist, sich aber in der Minderheit sieht, tritt dann vielleicht für die Initiative »Abtreibung ist Privatsache« ein, sodass sie wenigstens nicht von gesetzlichen Krankenkassen bezahlt werde. Wenn es jedoch die Chance auf eine Mehrheit gibt, wie unlängst in Spanien, vergisst man schnell die »Privatsache« und ein Gesetz wird favorisiert, das Abtreibungen verbietet. – Wer hofft, mit der Hilfe eines Volksbegehrens ein privatisiertes Versorgungsunternehmen zu rekommunalisieren, wird es einsetzen. Geht es um die Frage der Zuwanderung und die Mehrheiten sind anders verteilt als gewünscht, lässt die gleiche Partei verlauten, man dürfe dem Pöbel nicht erlauben, alles mitzuentscheiden.

52.

Derartige Inkonsistenzen sind oft Gegenstand von Spott, manchmal von Empörung, wenn wir sie allerdings genauer betrachten, enthüllen sie eine erschreckende Tendenz des demokratischen Staats. Diejenigen, die für eine Begrenzung dessen eintreten, was der Staat entscheiden dürfe, sehen sich in diesem politischen Tagesgeschäft stets in der Minderheit. Sie stellen die Minderheit; und bestenfalls mit juristischen Tricks können sie eine Entwicklung verlangsamen, nie aber aufhalten. Die Mehrheit ist immer die, die für mehr Staat, also für mehr Repression eintritt. Das ist der Mechanismus, den Rousseau gefürchtet und vermutet, den Ernst Jünger meisterhaft beschrieben hat: Demokratie tendiert dazu, ein Klima der Mehrheit zu schaffen, in welchem der Gewalt, das eigene Wollen durchzusetzen, keine Grenzen gesetzt werden. Die liberale Demokratie schafft sich stets selber ab, sei es in einem spektakulären Akt wie etwa der Machtübergabe an Nationalsozialisten, an islamische Fundamentalisten oder an wen auch immer, sei es in einem schleichenden »demokratischen« Prozess der zunehmenden Staatstätigkeit, die dann mit dem gleichen moralischen Eifer, wie sie gegen angebliche oder wirkliche Neonazis vorgeht, meint regulieren zu müssen, mit wieviel Wasser wir das Klo spülen dürfen. Die liberale Demokratie ist keine Alternative für totalitäre Demokratie, weil sie nicht nur keinen Mechanismus besitzt, die Was-Frage [3] auf ein Minimum zu begrenzen, also die Frage, was der Staat entscheiden dürfe, sondern auch weil sie einen teuflischen Mechanismus entfaltet, durch den das Was ständig ausgeweitet wird, das, in was der Staat meint, hineinregieren zu dürfen oder es dann auch zu müssen.

53.

KAPITALISMUS Die wirkliche Alternative zur totalitären Demokratie finden wir in der Wirtschaftsform, die lange mit der Demokratie verbunden war, heute aber zunehmend als ihr Gegensatz gesehen wird, im Markt oder Kapitalismus. Kapitalismus ist in der Weise undämonkratisch, dass nicht es einer zufällig in einem vorbestimmten Gebiet wohnenden Menge von Menschen erlaubt wird, die Entscheidungen zu treffen. Kapitalismus widerspricht einer willkürlichen Verfügung durch Mehrheiten und überlässt die Entscheidung dem willkürlichen Privathandeln. In einem Klima, das das private Handeln, die private Freiheit und die Eigenverantwortung stigmatisiert, wird Kapitalismus als »undemokratisch« betrachtet. Dabei verwirklichen die Prinzipien des Kapitalismus viel unmittelbarer, was die Demokratie seit jeher sich auf ihre Fahnen geschrieben hatte: Freiheit, Frieden, Selbstbestimmung, Wohlstand. – Diese Prinzipien lauten: Freiwilligkeit, Kooperation und Konkurrenz.

54.

Mit dem Prinzip der »Freiwilligkeit« gibt der Kapitalismus präzise Auskunft über die Wen-Frage:
[Zu 2.] Wen betrifft eine Entscheidung? Die kapitalistische Antwort lautet: Bloß diejenigen, die zustimmen. Wenn etwa BMW entscheidet, ein Modell zu verändern, wird das niemanden betreffen als jene, die einen BMW kaufen. Wer mit der Entscheidung nicht einverstanden ist, kauft ein anderes Auto, gar keins oder auf dem Gebrauchtwagenmarkt ein altes Modell, das ihm besser gefällt. Überdies arbeiten bei BMW vom Vorstandsvorsitzenden bis zum Lageristen bloß solche Menschen, die dort auch arbeiten wollen. Aus den Prinzipien von Freiwilligkeit und Kooperation ergibt sich Konkurrenz: Jeder kann sich zwischen den verschiedenen Möglichkeiten entscheiden, sodass die verschiedenen Angebote darum konkurrieren, in Betracht gezogen zu werden. Freiwilligkeit, Kooperation und Konkurrenz bilden einen notwendigen Zusammenhang. Nehme ich die Konkurrenz fort, ist auch die Freiwilligkeit hinfällig. Darin besteht der himmelweite Unterschied zum Staat: Die Kooperation im Staat ist erzwungen; unter der Bedingung der Demokratie findet zwar eine Konkurrenz während des Entscheidungsprozesses statt, das Ergebnis muss dann aber, anders als im Kapitalismus, akzeptiert werden. Der Kapitalismus gibt also auch hinsichtlich der Wie-Frage [1] eine andere Antwort als die Demokratie: ich besitze die Möglichkeit, nach erfolgter Entscheidung einer weiteren Kooperation zuzustimmen oder nicht. – Sie trifft mich nicht als Befehl, sondern als Angebot.

55.

Wenn wir die Aufmerksamkeit von der Wirtschaft auf das soziale Leben verlagern, können wir schnell erkennen, dass sich hier die gleichen Prinzipien ganz natürlich verwirklicht finden. Im Familien-, Freundes- und Bekanntenkreis gibt es selten formale Abstimmungen. Der Einfluss der einzelnen Mitglieder ist unterschiedlich, aber wenn jemandem die gefällten Entscheidungen dauerhaft missfallen, wendet er sich ab. Der Schweizer Entwicklungspsychologe Jean Piaget hat diese Abläufe im Kinderspiel beschrieben und zur Quelle der Bildung eines autonomen Moralurteils erklärt. Falls es hart auf hart kommt, kann ich mich sogar von der Familie abkehren, auch wenn das weh tut. Niemand sagt, dass Freiheit umsonst zu haben oder schmerzfrei sei. Umgekehrt mag die Familie bei »Fehlverhalten« ein einzelnes »schwarzes Schaf« verstoßen, gleichsam ausschließen.

56.

Bei zunehmender Mitgliederzahl sowie Komplexität einer Gruppe werden dann formalisierte Entscheidungsprozesse wichtiger. Doch sollte der Kaninchenzüchterverein in freier demokratischer Wahl jemanden zum Vorsitzenden wählen, dessen Nase mir so überhaupt nicht passt, kann ich zur Not austreten. Oder wenn der Papst wieder mal eine Enzyklika veröffentlicht, in welcher er den Kapitalismus anprangert, kann ich mir überlegen, die katholische Kirche wieder zu verlassen. Diese Beispiele habe ich mit Bedacht gewählt, sie zeigen nämlich, dass unter der Voraussetzung von Freiwilligkeit die Verfahrensweise zur Entscheidungsfindung, die für Demokraten die wichtigste Rolle spielt, eine untergeordnete Bedeutung erhält. Freiwilligkeit vorausgesetzt, können Gruppen, Organisationen oder Institutionen ebenso demokratisch verfasst sein wie autoritär, ohne dass dies zum Problem der politischen Ethik wird.

57.

ANARCHISMUS Der Kapitalismus, der zu sozialem Selbstbewusstsein kommt, sich also nicht auf eine Wirtschaftsform beschränkt, sondern sich als Gesellschaftsmodell versteht, heißt »Anarchokapitalismus«. Anarchokapitalismus drückt die Vorstellung aus, dass alle gesellschaftlichen Verhältnisse nach Maßgabe von Freiwilligkeit, Kooperation und Konkurrenz verfasst sein sollten. Diese Vorstellung klingt im derzeitigen politischen Klima radikal oder utopisch. Bezogen darauf, dass es sich aber um die natürliche Verfasstheit der Gesellschaften handelt, die tausende an Jahren Erprobungszeit hinter sich hat und die die Grundlage für den Wohlstand von allen schafft, ist die Vorstellung des Anarchokapitalismus gar nicht so utopisch, sondern bodenständig. Der Anarchokapitalismus antwortet auf die drei von mir herausgearbeiteten Problembereiche der Demokratie:

Die Wie-Frage [1]: Wie betrifft mich eine Entscheidung? Anders als im Staat betrifft sie mich im Anarchokapitalismus nicht wie ein Befehl, sondern als Angebot. Die Freiheit des individuellen Gewissens bleibt gewahrt.

Die Wen-Frage [2]: Wen betrifft die Entscheidung? Anders als beim Staat betrifft die Entscheidung bloß zustimmende Personen. Eine Gruppe, die Entscheidungen getroffen hat (und sei es auf demokratischem Wege), welche ich nicht mittragen kann, darf ich verlassen. Austritts-, Sezessionsrecht.

Die Was-Frage [3]: Was darf entschieden werden? Innerhalb des Rahmens von Freiwilligkeit: alles; aber außerhalb dieses Rahmens: nichts. Demgegenüber werden Formen des Entscheidungsprozesses unwichtig.

58.

[Zu 3.] Mit der Was-Frage sind wir aber noch nicht durch. Zwar habe ich bis hierher das Problem der Legitimation gelöst, das die Demokratie plagt, nicht aber die Möglichkeit erwiesen, dass Anarchokapitalismus praktisch umsetzbar sei. Die liberalen Denker benannten, wie bereits erwähnt, einen Kern von Aufgaben, der zwangsgemeinschaftlich zu regeln sei. In diesem Bereich sahen sie demokratische Entscheidungsprozesse gegenüber autoritativen als gerechter an. Den ursprünglichen Kanon der klassischen Liberalen, den sie in die Obliegenheit des Nachtwächterstaats stellten, haben seither noch viele weitere Bereiche ergänzt, bei denen es derzeit erst Wenige für denkmöglich halten, dass sie sich wieder privatisieren lassen.

59.

Angesichts der Zunahme der angeblich notwendigen Staatsaufgaben lautet die Standardansicht, die meist ungeprüft wiederholt wird, dies sei der zunehmenden Komplexität des Lebens im Allgemeinen und der Wirtschaft im Besonderen geschuldet. Die Standardansicht hält der historischen Überprüfung nicht stand. Die Struktur der Übernahme weiterer staatlicher »Leistungen« folgt nämlich immer der gleichen Logik: in einer neuen Entwicklung gilt es, ein bestimmtes Interesse durch manipulativen Staatseingriff zu befördern; dazu werden Bereiche privaten Handelns reguliert oder völlig okkupiert und in Staatshand übernommen. Als etwa die Eisenbahnen entstanden – Bedingung dafür war selbstredend der Kapitalismus –, geschah es bisweilen, dass durch Funkenflug Felder in Brand gesetzt wurden. In den USA war es aufgrund des dort praktizierten Gewohnheitsrechts klar, dass die Betreiber der Eisenbahnen für die Schäden aufzukommen haben. Dies entspräche auch dem überzeitlichen, überhistorischen und überkulturellen Gerechtigkeitsempfinden. Um sich gegen solche Schäden zu sichern, hätten die Eisenbahngesellschaften Land um die Trassen großräumig kaufen müssen. Ein staatliches Gesetz nun kehrte die Verantwortlichkeit um, so dass die Farmer einen Landstrich ihrer Felder um die Eisenbahntrassen räumen mussten.

60.

Ein weiteres Beispiel aus der Industriellen Revolution: Als die Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen für den Arbeitsprozess und die Aufstiegsmöglichkeiten wichtig wurden, entstanden in den industriellen Zentren Unterrichtsangebote, die in England und den USA mit Sicherheit, in Preußen wahrscheinlich auch, einen Alphabetisierungsgrad erreichten, der von den dann verstaatlichten Schulen erst später wieder eingeholt wurde. Bei der Verstaatlichung ging es nicht darum, ein auf dem Markt entstandenes Defizit auszugleichen, sondern gegen den Willen der Betroffenen Inhalte und Methoden durchzusetzen.

61.

Auch nicht wahr ist es, dass einmal verstaatlichte Bereiche sich nicht reprivatisieren ließen. Ich erinnere mich, dass mein Vater, ein liberaler Sozialdemokrat (das gab es damals, in den 1970ern), sich es nicht vorstellen konnte, die Telephone zu privatisieren. Mindestens erwartete er, die sprichwörtliche Oma auf dem Lande, die in ihrer Einsamkeit die entfernt wohnenden Enkel anrufen wolle, werde dann sich explodierenden Gebühren gegenüber sehen, nur die Großkapitalisten würden von niedrigeren Gebühren profitieren. Das war in just der Zeit, in der die Deutsche Post Personen mit Gefängnisstrafe drohte, die Tastentelefone in den USA kauften und anschlossen. Was auch immer die Fehler bei der Privatisierung der Telekom gewesen sind, keins der damals an die Wand gemalten Horrorszenarien ist eingetreten, es gab weder ein technisches, noch ein soziales Desaster. Soweit ich weiß, sehnt sich niemand zurück in die gute alte Zeit der grauen Wählscheibentelephone.

62.

KRIEG IST KEINE OPTION Ob Post, ob Bildung oder ob Recht, oder auch Straßen und Polizei, nichts hat der Staat, demokratisch oder autokratisch, erfunden oder geschaffen; alles, was er tut, hat er den frei handelnden Menschen abgenommen, enteignet und in ein Instrument von Macht und von Herrschaft verwandelt, ein Instrument, eine bevorzugte Gruppe gegenüber anderen Menschen zu hofieren und zu privilegieren. Alles lässt sich privatisieren, denn alles war einmal privat. [Zu 3.] Es gibt eine Ausnahme und das ist der Krieg. Krieg begründet den Staat, der Staat kultiviert ihn, der dämonkratische Staat perfektioniert ihn, Krieg ist die Nahrung des Staats. Mit Krieg sei nicht jede bewaffnete Auseinandersetzung zwischen Menschen gemeint, sondern der Kampf um die Ausweitung oder zumindest Erhaltung der willkürlichen territorialen Einheit mit Hilfe von Gewalt nach innen, das heißt mit Hilfe von nicht-freiwillig eingezogenen Abgaben, genannt »Steuern«, und gegebenenfalls mit nicht-freiwillig Kämpfenden. Auch das kennzeichnet Krieg, dass in ihm das Recht außer Kraft gesetzt wird. Als ein Kriterium von dreien für den gerechten Krieg nannte Thomas v. Aquin, dass Nichtkombattanten keinen Schaden erleiden. Im Krieg der historischen, uns bekannten Staaten bleibt die Bedingung unerfüllbar.

 


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